Christliche Traditionen beeinflussten im 19. Jahrhundert zunehmend das Judentum in Deutschland. In liberalen jüdischen Gemeinden erklang nach und nach immer häufiger eine Orgel. Kantoren wie Louis Lewandowski und Salomon Sulzer schrieben für neu gegründete Synagogalchöre Kompositionen, die sich an der christlichen Musik orientierten.
Mit der Zerstörung der Synagogen in der Reichspogromnacht im November 1938 wurden auch viele Noten verbrannt, mit der millionenfachen Ermordung der Juden endete diese jüdisch-liturgische Musiktradition. Fast.
Synagogalchöre: Wechselgesang zwischen Solisten und übrigen Mitgliedern
Denn in den vergangenen Jahrzehnten hat es immer wieder Menschen gegeben, die sich auf die Spur nach alten Noten begeben und sich aktiv für die Wiederbelebung der jüdischen Sakralmusik eingesetzt haben. In Hannover bestehen zwei von bundesweit nicht mal einem Dutzend Synagogalchören: der Synagogalchor Hannover und der Norddeutsche Synagogalchor. Sie sind aus dem Europäischen Synagogalchor hervorgegangen.
„Wir stehen nicht miteinander in Konkurrenz, sondern betreiben nur unterschiedlichen Aufwand für unsere Auftritte. Unser Chor ist mehr unterwegs“, sagt Wolfgang Körner vom Norddeutschen Synagogalchor. Der tritt je nach Konzertort mit acht bis 16 Mitgliedern auf, die vier- bis sechsstimmig die meist eingängigen Stücke unter Leitung von Martin Lüssenhop singen. Alle Sängerinnen und Sänger sind auch noch in anderen Chören aktiv.
Typisch für Synagogalchöre ist der Wechselgesang zwischen einem Solisten oder einer Kleingruppe und den übrigen Mitgliedern. Die meisten Lieder sind auf Hebräisch. „Wir sind keine Juden, wir sprechen und lesen nicht Hebräisch, sondern singen den Text in lateinischer Lautschrift vom Blatt. Das braucht schon Erfahrung“, sagt Körner, Beisitzer im Vorstand des Forums für synagogale Musik, dem Trägerverein des Chores.
Körner: “Bis heute erscheint die Klavierschule in der Nazi-Fassung”
Körner ist mit 80 Jahren das älteste Chormitglied und bereits seit der Gründung des Europäischen Synagogalchores dabei. „Es ist ein Kampf gegen das Vergessen. Wir wollen den Triumph der Nazis rückgängig machen“, sagt Körner und meint damit die Wiederentdeckung von vernichtet geglaubten Musikstücken, die vom Chor nach Jahrzehnten wieder zur Aufführung gebracht werden.
Mit einem Konzert Anfang März soll an Alfred Rose (1855-1919) erinnert werden. Er war 36 Jahre lang für die jüdische Gemeinde Hannover als Leiter des Synagogalchors tätig und komponierte auch Stücke für den Gottesdienst. Zudem war er Musikpädagoge und Herausgeber der Klavierschule Bisping-Rose. „Kein einziger Ton darin stammt von Bisping“, sagt Körner. „1935 wurde der Name Rose gestrichen und alle Hinweise auf jüdische Musik aus dem Band gestrichen. Bis heute erscheint die Klavierschule in hoher Auflage in der Nazi-Fassung, ohne den Namen Rose zu erwähnen. Es ärgert mich, dass diese Schmach bis heute nicht getilgt ist.“
Synagogale Chormusik ist immaterielles Kulturerbe
In Israel und in den jüdischen Gemeinden in anderen Ländern ist diese Musik wenig bekannt. „In jüdischen Gemeinden in Israel ist Sakro-Pop verbreitet, historische Stücke wie die von Rose spielen keine große Rolle“, sagt Körner. Nach einer Veröffentlichung der Bundeszentrale für politische Bildung kommen mindestens 90 Prozent der Mitglieder von jüdischen Gemeinden in Deutschland aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Von dort sind sie seit 1991 als sogenannte Kontingentflüchtlinge eingereist und haben „ebenfalls keinen Bezug zu dieser Musiktradition“, wie Körner sagt.
2020 hat übrigens die deutsche Unesco-Kommission die „Revitalisierung synagogaler Chormusik des 19. und 20. Jahrhunderts aus Mittel- und Osteuropas“ als immaterielles Kulturerbe anerkannt.