Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat es in den evangelischen Kirchen in Niedersachsen und Bremen in weit größerem Ausmaß gegeben als bisher angenommen. Nach kirchlichen Angaben vom Donnerstag gab es seit 1946 in den fünf Landeskirchen und der Diakonie in Niedersachsen insgesamt 322 mutmaßliche Täter, darunter 112 Pastoren, sowie mindestens rund 300 Betroffene. Neben den Pastoren werden auch Diakone, Musiker oder Erzieher beschuldigt. Aus der bremischen Kirche wurden acht Verdachtsfälle gemeldet, darunter sechs beschuldigte Pastoren.
Die Angaben waren an die Autoren der sogenannten ForuM-Studie über Missbrauch in der evangelischen Kirche und der Diakonie in Deutschland übermittelt worden, die am Donnerstag in Hannover vorgestellt wurde. Die Landeskirchen hatten für die Studie Disziplinarakten sowie teilweise Personalakten und weitere Akten aus den Jahren 1946 bis in die Gegenwart ausgewertet. Die Diakonie in Niedersachsen nannte für die Studie insgesamt 106 Betroffene aus ihren Heimen und Einrichtungen sowie 158 Beschuldigte, darunter Pastoren und Diakone sowie Mitarbeitende aus Schule oder Jugendhilfe.
In der unabhängigen Studie, die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragt wurde, ist von bundesweit 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern die Rede, darunter 511 Pastoren. Das Durchschnittsalter der Betroffenen bei der ersten Tat lag bei etwa 11 Jahren. Die ermittelten Zahlen seien aber nur „Spitze der Spitze des Eisbergs“, hieß es. Die Forscher kritisierten eine „schleppende Zuarbeit“, weil vor allem Disziplinar-, kaum aber Personalakten eingesehen wurden. Somit hätten sie das Vorhaben nicht vollständig umsetzen können. Bislang war nur bekannt, wie viele Betroffene sich an die zuständigen kirchlichen Stellen gewandt hatten. Diese Zahl lag in Niedersachsen und Bremen im zweistelligen Bereich.
Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister kündigte für seine Landeskirche eine sorgfältige Analyse der Ergebnisse an. Dies solle gemeinsam mit Betroffenen geschehen, sagte er: „Die Schlussfolgerungen dieser Analyse sind grundlegend für die weitere Umsetzung von Aufarbeitung und Prävention.“ Allein in der größten deutschen Landeskirche sind einem Sprecher zufolge aktuell 122 bestätigte Fälle oder Verdachtsfälle bekannt. Unter den Beschuldigten sind 63 Pastoren. Die Zahlen bildeten ausdrücklich nur einen Ausschnitt der Betroffenen ab, betonte Meister.
Ein Teil der Fälle sei in den Akten unter „Ehebruch“ geführt worden, erläuterte der Sprecher. Bei näherem Hinsehen hätten sie sich jedoch als sexualisierte Gewalt herausgestellt. An die Betroffenen zahlte die Landeskirche bislang insgesamt 183.500 Euro an Anerkennungsleistungen für erlittenes Leid und mehr als 49.000 Euro für Therapien oder Klinikaufenthalte. Die Diakonie in Niedersachsen zahlte nach eigenen Angaben 1,6 Millionen Euro an Anerkennungsleistungen.
Die braunschweigische Landeskirche meldete nach der Durchsicht der Akten 15 Verdachtsfälle seit 1939. Die oldenburgische Kirche sprach von 18 Beschuldigten und 25 bis 30 Betroffenen. In der Evangelisch-reformierten Kirche mit Sitz in Leer wurden nach eigenen Angaben zehn Verdachtsfälle in den Akten gefunden. Die Landeskirche Schaumburg-Lippe meldete einen Fall aus den 1950er-Jahren.
Die Studie bescheinigt der evangelischen Kirche spezielle Risikofaktoren, räumt aber mit dem Gedanken auf, dass sich diese auf spezielle Bereiche wie die bereits umfangreich aufgearbeitete frühere Heimerziehung oder liberale Sexualitätsdiskurse der 1970er-Jahre eingrenzen ließen. In nahezu allen Angeboten und Bereichen der Kirche habe man eine Vielzahl von Fällen nachweisen können, konstatieren die Forscher.
Sie kritisierten zudem den kirchlichen Föderalismus mit 20 Landeskirchen. Er führe dazu, dass mit Betroffenen unterschiedlich umgegangen werde. Forschungsleiter Martin Wazlawik sprach zudem von „Verantwortungsdiffusion und Verantwortungsdelegation“ und bescheinigte der evangelischen Kirche „Konfliktunfähigkeit“ und einen „Harmoniezwang“, die der Aufklärung im Weg stünden. Er sprach sich für verbindliche Interventionsverfahren und eine einheitliche Ombudsstelle für Betroffene aus.