In einer neuen ZDF-Neo-Serie schwappt eskalierender Schrecken aus dem 13. ins 21. Jahrhundert – ausgesprochen finster, aber mit Pfiff und überzeugend inklusiv.
Hameln an der Weser hat ein Alleinstellungsmerkmal. Alle Welt kennt die Rattenfänger-Geschichte, die sich 1284 ereignet haben soll und schon lange vor den Brüdern Grimm international verbreitet wurde. Dabei hilft auch, dass außerdem nicht ungeheuer viel aus der niedersächsischen Mittelstadt mit gut 50.000 Einwohnern bekannt wurde und wird.
Doch die ambivalente Sage um den Flötenspieler, der Hameln auftragsgemäß von einer Rattenplage befreite und später – als er um den Lohn geprellt wurde – 130 Kinder entführte, hat internationales Format. Schon weil die meisten Kinder nie mehr auftauchten, wird sie in allen möglichen popkulturellen Ausdrucksformen immer wieder adaptiert. Bloß das deutsche Fernsehen hinkte da etwas hinterher. Dem hilft nun die sechsteilige ZDF-Neo-Serie ab, die sich mit dem schlichten Titel “Hameln” begnügt. Und das tut sie ziemlich gut…
Rainer Matsutani (Regie und Buch gemeinsam mit Sandro Lang) macht sich die von den Grimms überlieferte Prämisse, dass nur zwei Kinder, “das eine blind, das andere stumm”, dem Rattenfänger entgingen, zunutze. Im Hameln der Gegenwart träumen der gehörlose Jannik (Constantin Keller), die sehbehinderte Finja (Caroline Hartig) und der rappende Rollstuhl-Basketballer Ruben (Riccardo Campione) voneinander – was aber nicht zu der von Jannik zunächst erhofften Romantik mit Finja führt. Vom Balkon eines brennenden Hauses deklamiert dafür ein verbrennender junger Mann, der offenbar seine Eltern umbrachte, eine schwer verständliche Warnung.
Spätestens als sich der leicht englisch klingende Spruch dank moderner Sprach-Tools als Mittelniederdeutsch erweist, wird den Protagonisten, zu denen auch Janniks gebärdendolmetschender Bruder Sam (Jonathan Elias Weiske) zählt, und dem Publikum deutlich: Die 130 im 13. Jahrhundert verschwundenen “Geisterkinder” sind zurückgekehrt. “Sie wollen uns holen, weil wir entkommen sind”, reimen sich die gehandicapten jungen Leute zusammen. Ältere Gegenwarts-Hamelner nehmen das natürlich nicht ernst. Und wenn die Geister auch ihnen erscheinen, haben sie nicht mehr viel Zeit, weil ihr Schrecken sich schnell als Vorbote von noch Schlimmerem entpuppt.
Zombiehaft tauchen die Geisterkinder in düster vernebelten Wäldern des Wesergebirges und in Hamelns ebenfalls düster in Szene gesetzten Fachwerkgassen auf. Aber sie erobern auch die Komfortzonen, in denen die privilegierten Protagonisten beziehungsweise ihre Eltern sich eingerichtet haben. Wenn archaischer Horror auf Gegenstrom-Swimmingpools, hochwertige Abschottungs-Kopfhörer und naturnahe Ziergärten trifft, in denen bislang der Kampf gegen Maulwürfe die vermeintlich größte Herausforderung darstellt, besitzt das Pfiff und leisen Witz. Doch erweist sich die Grundstimmung bald als zu düster für Gute-Laune-Grusel.
Ein Horror-Niveau, auf dem fast jeder alltäglich gemeinte Satz und jeder Blick zusätzliche Bedeutung gewinnt, ist jedenfalls schnell erreicht. Über sechs jeweils circa 40-minütige Folgen gelingt es den Machern, den Schrecken sanft, aber beträchtlich zu eskalieren. Zugleich walten persönliche Rivalitäten unter den überzeugend charakterisierten Haupt- und Nebenfiguren weiter. Während die Eltern noch rätseln, wie ernst sie die Träume ihrer Kinder nehmen sollten, erkennen diese Anzeichen lange verdrängter Schuld bei ihren Eltern. Nicht zuletzt sie ist es, die in Gestalt der bleichen, schmutzbesprenkelten Zombies zurückkehrt.
In Folge drei taucht der effektvoll böse dreinblickende Rattenfänger erstmals richtig auf. Schauspieler Götz Otto wurde wegen seines Auftritts in “Der Morgen stirbt nie” (1997) lange als “Bond-Schurke” apostrophiert. Als Bitter-Bösewicht mit auch nur wenigen Szenen in “Hameln” verdient er, ähnlich nachhaltig im Gedächtnis zu bleiben. Als seine gegenwärtige Gegenspielerin entpuppt sich Jamila Jost (Florence Kasumba, bekannt als Kriegerin Ayo aus US-amerikanischen Marvel-Kinofilmen sowie als Maria-Furtwängler-Sidekick in “Tatort”-Krimis aus dem von Hameln gut 80 km entfernten Göttingen). “Mein Vater war ein Witchdoctor”, offenbart die Ärztin ihrer Tochter Romy, einer Bundeswehr-Soldatin, die zugleich Rubens Freundin ist.
Ohnehin ist “Hameln” durchgehend gut besetzt, wie schon die zahlreichen leeren, düsteren oder schwer einzuschätzenden Blicke zeigen. Das gilt auch für Veronica Ferres in der Rolle von Janniks Mutter, die am Anfang von Emoji-reichen Botschaften auf ihrem Smartphone mehr geflasht ist als von den Erlebnissen ihrer Söhne. Und die später bei sich eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, als befände sie sich in einem zeitgenössischen Problemfernsehfilm. Doch da liegt sie falsch …
Nicht zuletzt überzeugt, wie beiläufig und daher überzeugend inklusiv “Hameln” daherkommt. Um Inklusion bemühen sich längst viele Fernsehproduktionen, wirken zu häufig aber recht bemüht. Hier gehört Inklusion organisch zum Plot. Überdies ist Jannik-Darsteller Constantin Keller tatsächlich gehörlos. Und Finja-Darstellerin Caroline Hartig spielte mit Sklerallinsen, die ihre Sicht auf 14-20 Prozent einschränkten (und verkörperte in der Degeto-Reihe “Weingut Wader” schon mal eine Blinde). Bei allem Horror lässt Matsutanis Inszenierung dabei immer wieder auch Stille zu. Um nicht immer, aber wenn, dann umso heftiger Schreckmomente folgen zu lassen
Zudem behält die Serie bis zum recht furiosen Finale den Überblick über ein komplexes, aber durchgehend funktionales Geflecht aus übernatürlichen, aus dem Mittelalter rührenden Fantasy-Horror-Verstrickungen und der unmittelbaren Jetztzeit. Diese ZDF-Serie, in der auch echte Hamelner Schauplätze bis hin zum Stadtmuseum mit der nach eigener Einschätzung “wohl größten Rattenfänger-Sammlung weltweit” zur Geltung kommen, spinnt den mittelalterlichen Rattenfänger-Mythos auf der Höhe der Gegenwart international konkurrenzfähig fort.