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Seismograph und Alltagsbegleiter

Nach fast 35 Jahren endet die «Lindenstraße»

Frankfurt a.M. (epd). Eine Serie einstellen? Wo doch alle Welt vom Serienboom schwärmt? Viele wollten es nicht glauben, als der WDR am 16. November 2018 das Ende der «Lindenstraße» verkündete. In Kommentaren gab es flammende Plädoyers, Fans organisierten Demonstrationen für den Erhalt. Doch die ARD blieb hart. «Unvermeidbare Sparzwänge» und gesunkene Einschaltquoten sind die offizielle Begründung dafür, dass am 29. März die 1758. und letzte Folge mit dem Titel «Auf Wiedersehen» läuft. Erstmals verrät der Sender vorab nichts zum Inhalt.

   Zu Beginn hatte es gar nicht danach ausgesehen, dass aus der «Lindenstraße» ein Erfolgsformat werden könnte. «Dürftig und schlecht gemacht», urteilte etwa der Fachdienst «epd / Kirche und Rundfunk» über die erste Folge, die am 8. Dezember 1985 ausgestrahlt wurde. Das Blatt rügte die Serie als «Sozialkitsch» und prophezeite ihr ein baldiges Ende. Ähnlich fielen damals die meisten Kritiken aus. Doch das Publikum war angetan: In ihrer Frühzeit lockte die Serie mit den Spannung erzeugenden Cliffhangern am Ende mehr als zehn Millionen Zuschauer pro Folge an. Im Jahr 2019 waren es freilich nur noch 1,95 Millionen, die auf den Sendetermin am Sonntag um 18.50 Uhr
hinfieberten.

   Im Mikrokosmos der fiktiven Straße wurden in dreieinhalb Jahrzehnten sämtliche großen und kleinen Lebensdramen durchgespielt. Hochzeit und Scheidung, Geburt und Tod, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Transsexualität, Ehebruch, Vatermord, Verwerfungen durch Krieg oder politischen Extremismus – es gab kein Thema, das nicht im Drehbuch untergebracht wurde. «Die 'Lindenstraße' war immer ein Seismograph für gesellschaftliche Entwicklungen», sagt die Medienwissenschaftlerin Klaudia Wick. «Vieles wurde sehr früh thematisiert, beispielsweise ernährte sich die Serienfigur Klaus Beimer schon 1995 vegan.»

   Wick hält die Entscheidung der ARD, die Serie einzustellen, für kurzsichtig. «Die 'Lindenstraße' ist keine High-End-Serie, die man für kurze Zeit gebannt verfolgt, sondern das Gegenteil – eine Endlos-Serie für den Dauergebrauch, die den Alltag begleitet und formt», sagt die Leiterin Audiovisuelles Erbe/Fernsehen in der Deutschen Kinemathek in Berlin. Im fiktionalen öffentlich-rechtlichen Fernsehen gebe es künftig mit dem «Tatort» nur noch ein Format, das an die breite Bindungskraft der «Lindenstraße» heranreiche und Gesprächsstoff liefere, an den im Prinzip jeder anknüpfen könne.

   Die Serie hat sich im Laufe der Zeit durchaus verändert. Viel stärker als früher arbeiteten die Regisseure zuletzt mit formalen Gestaltungsmitteln, es gab auch deutlich mehr Schauplätze außerhalb des «Lindenstraße»-Areals. Zudem merkte man den Drehbüchern an, dass Hana Geißendörfer – die Tochter des 78-jährigen Serienschöpfers Hans W. Geißendörfer – seit einiger Zeit als Produzentin für die Serie hauptverantwortlich war: Im Mittelpunkt stand nun die Altersgruppe der 25- bis 40-Jährigen. Klaus Beimer und Co. haben ganz andere
Probleme als Vater Hans und Mutter Helga, die mit ihrer Generation lange die Serie dominierten.

   Ausgezahlt haben sich die Veränderungen für die Verantwortlichen nicht. Gerüchten, dass Streamingdienste wie Netflix an einer Übernahme interessiert seien, entzog Hans W. Geißendörfer im Dezember endgültig den Boden: «Die 'Lindenstraße' gehört zur ARD, und wenn es vorbei ist, ist es eben vorbei», sagte er. «Alles, was gut ist, hat auch mal ein Ende.»

   Pro Jahr kostet die «Lindenstraße» etwa acht Millionen Euro, für Sportrechte gibt die ARD jährlich 250 Millionen Euro aus. Das Sparzwang-Argument haben deshalb viele infrage gestellt. Als im Herbst bekanntwurde, dass der «Weltspiegel» am Sonntagabend vorverlegt werden und stattdessen Sport auf dem prominenten Sendeplatz vor der «Tagesschau» laufen könnte, sahen sich die Kritiker bestätigt – die «Lindenstraße» und das Auslandsmagazin sollten offenbar dem Sport weichen.

   Ganz so kommt es nun nicht, auch wenn es tatsächlich der Sport ist, der in der Schiene ab 18 Uhr am meisten profitiert: Von den 30 Minuten, die durch das Ende der «Lindenstraße» frei werden, erhält die «Sportschau» 20 obendrauf und läuft künftig von 18.30 Uhr bis 19.20 Uhr. Je fünf Minuten gehen an eine kurze «Tagesschau»-Ausgabe um 18 Uhr und an den «Bericht aus Berlin», der ab 18.05 Uhr leicht verlängert laufen wird. Der «Weltspiegel» behält seinen Platz um 19.20 Uhr.

   Die «Lindenstraße» wandert unterdessen ins Museum. Ihre Kulissen und Requisiten werden in verschiedenen Ausstellungshäusern gezeigt: Die berühmte Küche von Helga «Mutter» Beimer und die Bushaltestelle Lindenstraße/Kastanienstraße etwa sind künftig im Haus der Geschichte in Bonn zu sehen. Im Technik Museum Speyer, das bereits ein kleines «Lindenstraßen»-Zimmer hat, werden unter anderem das Restaurant «Akropolis» und das «Café Bayer» aufgestellt.

   Medienwissenschaftlerin Klaudia Wick hat in der Deutschen Kinemathek kürzlich die neue «Sammlung Lindenstraße» eröffnet. Dafür wurden 373 Folgen der Serie dauerhaft in den Bestand des Museums aufgenommen. Alle, die nach dem Ende Wehmut verspüren, haben dort einen Ort für ihre Trauer – aber auch für ihre Erinnerung an eine besondere Serie, die es so im deutschen Fernsehen wohl nicht wieder geben wird.