Muss man Gedichte eigentlich verstehen, ihren tiefsten Sinn ergründen? Oder reicht es, sich an ihrem Klang zu erfreuen? Bei Werken des französischen Lyrikers Paul Verlaine bleibt einem manchmal nichts anderes übrig, als den Verstand hintanzustellen und allein die Worte, ihre Laute, ihren Rhythmus, ihre Melodie wirken zu lassen. Wer kann, im Französischen. Ansonsten in der Übersetzung. Dass der Klang von Verlaine-Gedichten vielfach wichtiger sei als ihr Inhalt, meinen auch Fachleute. Schließlich habe Verlaines eigene Maxime geheißen: „De la musique avant toute chose“ – „Musik vor allen Dingen“.
Dieser Charakter der Texte, der einerseits nicht wenige Musiker geradezu zu Vertonungen herausforderte, hat andererseits zur Folge, dass sich ihre Übersetzung als äußerst schwierig erweist, wenn Form und Sinn erhalten bleiben sollen. Etliche deutsche Literaten ließen sich von Verlaine-Gedichten in den Bann ziehen und versuchten sich an Übersetzungen – beziehungsweise Übertragungen oder Nachdichtungen: Rainer Maria Rilke etwa, Stefan George, Hermann Hesse und Stefan Zweig – um nur einige zu nennen.
Zu ihnen hat sich nun auch ein westfälischer Pfarrer gesellt: Frank Stückemann aus Soest, der bereits mit seinen Übersetzungen von englischen Gedichten des Symbolisten Ernest Dowson (1867-1900) in Literaturkreisen auf sich aufmerksam gemacht hat (UK 39/2017). Schon als Schüler habe er die Gedichte von Verlaine gemocht und ein Ungenügen an bisherigen Übersetzungen gespürt, sagt er im Gespräch mit UK. Vor allem den Alexandriner, „das französische Versmaß aller Dinge“, vermisst Stückemann. Bis auf Paul Wiegler habe niemand die 12- beziehungsweise 13-silbige Rhythmik mit einer Zäsur in der Mitte im Deutschen nachzubilden versucht. Nicht einmal „ein Formpurist wie Stefan George“. Mit Stückemanns jüngster Arbeit soll dieses Manko nun beseitigt sein.
Aber es ist nicht nur die Form, die den Pfarrer begeistert. Inhaltlich fasziniert ihn besonders die „schamlose Offenheit Verlaines, über seelische Dinge zu reden“, wie er sagt.
Und vielerlei „seelische Dinge“, jede Menge Höhen und möglicherweise noch mehr Tiefen, hat der Dichter erlebt. 1844 in Metz geboren, fing er bereits mit 14 Jahren an, Gedichte zu schreiben. Auf Wunsch des Vaters trat er mit 20 eine Stelle bei der Pariser Stadtverwaltung an. 1870 heiratete er. Wegen der Teilnahme an dem Aufstand der Pariser Kommune wurde er aus dem Dienst entlassen. Damit war die relativ kurze bürgerliche Phase im Leben Verlaines beendet. Was folgte, war ein unstetes Leben: Scheidung, homosexuelle Beziehungen (unter anderem mit seinem Dichterkollegen Arthur Rimbaud), Alkohol- und Gewaltexzesse, Gefängnis, Kontakt mit Prostituierten, Verelendung.
Das machte Verlaine in den Augen vieler Zeitgenossen zum Bürgerschreck. Seinem literarischen Ruhm aber tat es keinen Abbruch. 1894, zwei Jahre vor seinem Tod, erhoben ihn seine Landsleute zum „Prince des poètes“ – zum „Dichterfürsten“. Und noch heute kennt wohl jeder Franzose sein „Chanson d‘Automne“, sein „Herbstlied“. Mit diesem Text wurde die französische Résistance 1944 über den Termin der Landung der Alliierten in der Normandie informiert.
Liebe, Natur, Kunst, Gesellschaftskritik – das sind einige der Themen bei Verlaine. Während seines Gefängnisaufenthalts – er hatte in betrunkenem Zustand auf seinen Freund Rimbaud geschossen und wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt – entdeckte er auch den christlichen Glauben für sich und seine Arbeit. 1880 erschienen seine religiösen Gedichte unter dem Titel „Sagesse“ („Weisheit“). Auch sie finden sich unter Stückemanns Neuübersetzungen. Es sind Gebete, Zwiegespräche der Seele mit Gott, Reflexionen und Lobpreisungen.
Man muss nicht so weit gehen wie der französische Schriftsteller Joris-Karl Huymans, der seinen Zeitgenossen Paul Verlaine als größten Dichter der (katholischen) Kirche seit dem Mittelalter bezeichnet. Dass der Künstler aber – getrieben von der Sehnsucht nach Erlösung – mit Teilen seines Werkes formal und inhaltlich zu mystischen Traditionen in Glauben und Dichtung zurückkehrt, steht auch für Stückemann außer Frage.
Paul Verlaine: Gedichte I, französisch/deutsch. Übersetzt von Frank Stückemann. Rimbaud Verlagsgesellschaft Aachen, Lyrik-Taschenbuch Nr. 117, 500 Seiten, gebunden, 45 Euro.