Als Ann-Cathrin Wehmeiers Tochter vor elf Jahren zur Welt kam, war das Neugeborenen-Hörscreening zwar auffällig, aber die Ärzte schoben das auf Fruchtwasser im Gehörgang. Erst als der Verdacht auf eine seltene Erkrankung, das sogenannte CHARGE-Syndrom fiel, seien weitere Tests gemacht worden, berichtet die 39-Jährige aus Witten. Denn eine Hörbehinderung ist bei dem Syndrom häufig. Eine Untersuchung brachte die Gewissheit: Ihre Tochter Annabell ist gehörlos.
„Eine Aufklärung fand nur einseitig statt, bei der ein Cochlea-Implantat als einzige Lösung vorgeschlagen wurde“, erinnert sich Wehmeier an die Zeit danach. Das Implantat ersetzt die Funktion des Innenohrs, indem es elektrische Impulse an den Hörnerv weiterleitet. Das Gehirn muss lernen, die Impulse als bestimmte Geräusche und schließlich als Sprache wahrzunehmen. Fünf Jahre lang trug Annabell das Implantat, aber ein Hörerfolg blieb aus. Eine MRT-Untersuchung ergab schließlich, dass Annabell keine Hörnerven besitzt, das Implantat daher nutzlos war.
In all den Jahren kämpfte die Familie parallel um die Finanzierung eines Haus-Gebärdenkurses, sogar vor Gericht. „Der Weg dahin war schrecklich“, sagt Wehmeier. Zwei Jahre lang hätten die Anträge bei den Ämtern gelegen. Hilfe und Austausch fand die Familie beim Bundeselternverband gehörloser Kinder.
Ein Gebärdenkurs steht den Betroffenen eigentlich zu. Doch die Bearbeitung dauere nicht selten mehrere Jahre, sagt Romy Ballhausen aus dem Vorstand des Verbandes. „Wie oft wir hören: Den Antrag haben wir hier das erste Mal“, sagt sie. Kostbare Zeit, die den Familien in der gemeinsamen Kommunikation fehlt. So wie der Familie von Ann-Cathrin Wehmeier. Vor Gericht erwirkte sie schließlich einen Haus-Gebärdensprachkurs für zwei, später viereinhalb Stunden pro Woche.
Nach Schätzungen des Bundesgesundheitsministeriums verfügen in Deutschland rund 80.000 Kinder über ein stark eingeschränktes Hörvermögen. Ein zentrales Register gibt es nicht. Von 1.000 Neugeborenen liegt bei rund ein bis drei Kindern eine Hörschädigung vor. Ziel der Screening-Untersuchungen seit 2009 ist es, diese möglichst früh zu erkennen.
„Bei einer Form des Neugeborenen-Hörscreening wird der Reaktionsschall des Hörvorganges aus dem Innenohr (Innenohrecho) gemessen, so kann beispielsweise festgestellt werden, ob die Hörschnecke funktioniert“, erklärt Thomas Deitmer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Das sogenannte BERA-Hörscreening messe zusätzlich die Aktivität des Hörnervs.
Bei 0,1 bis 0,3 Prozent der Kinder entwickelt sich die Hörstörung im Laufe des Lebens, zum Beispiel durch eine Viruserkrankung oder bakterielle Infektion. Bei einigen Kindern fällt erst in der Kindertageseinrichtung oder Schule auf, dass sie nicht richtig hören können.
Silvia Langhammer ist Erzieherin in einer Troisdorfer Kita und selbst schwerhörig. Bei ihr wurde die Schwerhörigkeit erst im Erwachsenenalter diagnostiziert. Sätze ihrer Lehrerin wie „Kannst du nicht hören oder willst du nicht?“ kämen ihr heute wie Hohn vor, sagt die 59-Jährige. Erst mit Mitte 30 bekam sie ihre ersten Hörgeräte.
Sie hat ein Gespür dafür, wenn Kinder schlecht hören. Kämen sie aus mehrsprachigen Familien, sei es gar nicht so einfach herauszufinden, warum das Kind sprachlich hinterherhinke. Hinzu kommen die vielen Infekte der Kinder in der Kita-Zeit. Auf Nachfrage bei den Eltern zitierten diese oft die Ärzte: „Das wächst sich raus.“ Leidet ein Kind jedoch ständig unter Paukenergüssen und klagt über Ohrenschmerzen, sollte man genau hinschauen. Denn auch eine temporäre Hörschädigung kann die sprachliche Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen.
Wenn der Frust über das eingeschränkte Hören zunimmt, reagieren manche Kinder verhaltensauffällig, unruhig oder aggressiv und werden dann eher als „schwer erziehbar“ abgestempelt. Das erlebt auch Thekla Werk bei ihrer Arbeit als Gebärdensprachdozentin in Familienkursen.
In ihren Kursen gehe es oft um mehr als um die Kommunikation, erklärt sie. „Einmal war ich in einer Familie, in der das gehörlose Kind am Tisch immer unruhig war. Ich bemerkte, dass es mit dem Rücken zur Tür saß und sich immer umdrehte, um mitzubekommen, wer rein- und rausging. Als wir es umsetzten, wurde es ruhiger“, gebärdet die 40-Jährige. Solche Situationen zeigten, dass hörende Eltern oft noch lernen müssten, wie ihr Kind die Welt wahrnehme.
So war es auch in der Familie von Annabell. „Wir kommunizieren ausschließlich über Gebärdensprache, auch ihre Geschwister haben die Sprache gelernt“, erzählt Ann-Cathrin Wehmeier. Die 39-Jährige engagiert sich inzwischen auch im Elternverband gehörloser Kinder. Eine frühe Diagnose sei wichtig, aber Technik und medizinische Lösungen nicht das Allheilmittel für eine gelungene Integration schwerhöriger und gehörloser Kinder, findet sie. Ihr Wunsch: Eine größere Akzeptanz und Verbreitung der Deutschen Gebärdensprache.