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Schau zeigt wandelndes Natur-Verständnis in der deutschen Geschichte

Was versteht man unter “Natur”? Eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin spannt einen Bogen vom 12. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre – und zeigt verschiedene Deutungen in der deutschen Geschichte.

Als Deutschland 1914 in den Ersten Weltkrieg zog, zog die Biene Maja mit. Viele der Soldaten hatten besagtes Kinderbuch zur Unterhaltung dabei, nutzten es für eine geistige Flucht aus der Fronterfahrung. “Doch die Geschichte ist auch mit Analogien besetzt: Im Buch ruft die Bienenkönigin zum Kampf gegen die Wespen auf. Die können als Franzosen gedeutet werden”, erzählt Julia Voss im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Sie ist die Kuratorin der neuen Ausstellung “Natur und deutsche Geschichte. Glaube – Biologie – Macht”, die am Freitag startet und von den verschiedenen Deutungen des Natur-Begriffs im Verlauf der deutschen Geschichte zeugt. Im Fall der Biene Maja von einer Kinderzählung und gedeuteter Propaganda.

Das Spektrum der Ausstellung reicht aber viel tiefer in die Vergangenheit zurück: Ausgangspunkt der Schau ist der Begriff der göttlichen “Grünkraft” der Ordensfrau Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert. Die Benediktinerin sah in der Natur eine göttliche Kraft, der die Menschen dienen sollten, um die Frische der “natürlichen” Welt zu stärken. Die Schöpfung verstand sie als ein System von göttlichen Zeichen.

“Seitdem haben die Vorstellungen von Natur in der Geschichte immer wieder neue und andere Gestalten angenommen”, erzählt Voss. Regierungen sowie politische und religiöse Bewegungen hätten den Naturbegriff immer wieder neu für sich beansprucht. Davon erzählen in der Schau rund 250 Exponate aus 800 Jahren, vom 12. Jahrhundert bis zu den 1970er Jahren.

Durch die Schau führen fünf chronologisch angeordnete Ausstellungsräume. Vom Mittelalter geht es für die Besucher durch die Frühe Neuzeit, die Industrialisierung, den Nationalsozialismus bis zur deutschen Teilung. Um der Masse an Deutungen und Ereignissen in dieser großen Zeitspanne gerecht zu werden, konzentriert sich das Museum jeweils auf einige sinnbildliche Fallbeispiele, erklärt Voss. Das sind etwa die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges oder die völkische Vereinnahmung des Natur-Begriffs in der NS-Zeit, in der die Rassenideologie mit einer vermeintlichen Natürlichkeit begründet wurde.

So vielschichtig wie die Deutungen von Natur sind dabei die Ausstellungsstücke: Neben Gemälden, Karten, Büchern und Fotografien sind auch ein Globus, ein aufbereiteter Wolf und das Modell eines Schwenkbaggers für den Braunkohleabbau zu sehen. Und nicht nur die Augen der Besucher kommen auf ihre Kosten, sondern auch der Geruchssinn – verschiedene Sensoren versprühen die Düfte einiger Pflanzen, deren Wirkkräfte Hildegard von Bingen beschrieb.

Durch diese Interaktivität und die Vielfalt der ausgestellten Objekte wirkt der kleine Streifzug durch 800 Jahre deutscher “Naturgeschichte” äußerst kurzweilig. Auch, wenn die Schau nicht alle Strömungen und Zuschreibungen abbilden kann, sind die gezeigten Beispiele gut gewählt und gewähren einen sinnigen Überblick über den Verlauf der Debatten rund um den Natur-Begriff. Sicherlich hätte es aber an der ein oder anderen Stelle etwas tiefgründiger sein können.

Besonders hervor sticht die Barrierefreiheit der Schau. Die Texte zu den Objekten sind zusätzlich in Leichter Sprache sowie in Brailleschrift angebracht, kleine Bildschirme zeigen Filmbeiträge in Gebärdensprache. Einige Tische in den Räumen sind in der Höhe verstellbar. Passend zum Thema der Ausstellung habe das Museum auch auf Nachhaltigkeit geachtet, so Voss. Viele Materialien wurden demnach aus früheren Ausstellungen wiederverwendet, die Transporte von Leihgaben wurden gebündelt. Die Mehrzahl der Objekte stamme aus den eigenen Sammlungen.

Die Schau fasst auch einen Punkt ins Auge, der heute so aktuell ist wie nie: Klima- und Naturschutz. War dieser in der deutschen Geschichte lange Zeit konservativ besetzt, in der NS-Zeit später auch völkisch, änderte sich das im 20. Jahrhundert. Spätestens seit der Anti-Atomkraft-Bewegung in den 1970er Jahren wird der Umweltschutz mit linker Politik assoziiert. Und so kommen in der Schau, die bis zum 7. Juni 2026 läuft, dann wieder die Bienen ins Spiel: Eine Station zeigt, wie sehr die Artenvielfalt der Bienen in Sachsen-Anhalt nach Aufkommen der Industrialisierung geschrumpft ist. Es ist heute als Mahnung zu verstehen, wie die Menschen mit der Natur umgehen.