Der Aufgabe, den Menschen zeichnerisch zu ergründen, widmeten sich italienische Künstler stets aufs Neue. Wie sich ihr Blick von der Renaissance bin zum Spätbarock wandelte, lässt sich in einer Münchner Schau erfahren.
Der Mensch: ein Wesen aus Fleisch und Blut. Dafür interessierte sich immer wieder auch die Kunst. Besonders die Renaissance war in dieser Hinsicht federführend. In der Münchner Pinakothek der Moderne spürt diesem Phänomen nun bis 13. April eine eigene Ausstellung nach. Unter dem Titel “Den Menschen vor Augen” sind 100 italienische Zeichnungen aus der Zeit von 1450 bis 1750 zu sehen.
Mit Rötelstift und schwarzer Kreide gelang es damals den Künstlern, den Menschen nicht nur in seiner äußeren Erscheinung zu verstehen. Vielmehr schafften sie es auch, dessen Empfindungen auszudrücken. Um dies zu zeigen, hat Kurator Kurt Zeitler aus dem Bestand der Graphischen Sammlung wahre Schätze hervorgeholt. Im ersten Abschnitt “unbefangen und verwundbar” spüren frühe Blätter dem menschlichen Körperbau nach und beziehen sich dabei oft auf antike Skulpturen.
Unter dem Motto “gewandet und kostümiert” werden Menschen in Stoffhüllen präsentiert, die meist mehr offenlegen als verdecken. Die Gewänder der Trägerinnen und Träger reihen diese in die damalige Welt- und Gesellschaftsordnung ein. Das Kapitel “neben-, mit- und gegeneinander” schildert wiederum Einzelne und Gruppen in Aktion. Anrührend wird es beim Schlusskapitel “privat und offiziell, ideal und grotesk”, wo menschliche Gesichter im Zentrum sehen.
Unter den ausgewählten Meisterzeichnungen finden sich – neben weltlichen Themen – auch viele Werke mit Motiven christlicher Kunst. Gleich das erste Blatt (um 1485, von Benozzo Gozzoli) zeigt Christus als Schmerzensmann in einer Aktstudie, der das Innere seiner Hand vorweist, in dem aber kein Wundmal zu sehen ist. Das beweist, dass der künstlerische Fokus damals noch mehr auf dem menschlichen Körper lag, der religiöse Gehalt stand eher im Hintergrund. Dennoch verbindet die Zeichnung schon die menschliche und göttliche Natur Christi miteinander.
Eine Studie von 1670 – wohl für ein Gemälde des David im Kampf gegen Goliath – veranschaulicht die Entschlossenheit des jungen Helden. Alles verdichtet sich zu dem Moment, wo der Wille in die Tat umgesetzt wird. Eine stehende männliche Figur (um 1511) des malenden Klosterbruders Fra Bartolommeo war vermutlich für dessen Altarbild “Die Verlobung der heiligen Katharina” gedacht und stellt den Apostel Petrus dar. Diesen malte er nicht aus der eigenen Vorstellung, sondern ließ dafür einen Mitbruder Modell stehen.
Weitere Zeichnungen zeigen den an seiner Beinwunde erkennbaren heiligen Rochus oder Maria Magdalena mit einem Salbgefäß. Auch zwei auf dem Boden sitzende Eremiten sind unter den Porträtierten. Deren Körperhaltung macht deutlich, dass der Ältere den Jüngeren belehrt, einen jüngeren bärtigen Mönch mit Kapuze, dessen Gesicht Selbstbewusstsein, Würde und Gelassenheit eines Renaissancemenschen ausstrahlt. Als besonders interessant erweist sich auch die Federzeichnung “Judas bindet sich die Sandale” (um 1560), nachdem Jesus ihm, wie allen anderen Jüngern, beim letzten Abendmahl die Füße gewaschen hat.
Wie gut der Kurator seine Kunstwerke kennt, zeigt sich an der Rötelskizze “Zwei stehende Frauen” (um 1520) von Jacopo Potormo. Bisher hatte man diese mit der “Heimsuchung Mariens” in Verbindung gebracht. Bei näherem Hinsehen bemerkt man, dass sich hier nicht Maria und Anna begegnen. Vielmehr löst sich hinter der ersten Figur eine zweite ab, die mit der vorderen in ihrer Körperhaltung identisch ist. Ihre Konturen um den Kopf lösen sich in antennenartige Wirbel auf. Hier drückt sich wohl laut Kurt Zeitler das Verständnis des Künstlers aus, der davon überzeugt war, dass Körper und Seele zwei voneinander trennbare Existenzen sind.
In jedem Blatt lassen sich Besonderheiten entdecken. Michelangelo etwa zeichnet Körperteile so lebendig, wie wenn sie vom Auf und Ab des Atems bewegt wären. Ein sitzendes Kind blickt bei Lorenzo Lippi (1655) derart über den Betrachter hinweg, als hätte der Künstler beim Zeichnen hinter sich etwas angebracht, das die Aufmerksamkeit des Mädchens beim Modellsitzen fesselt. Und der Venezianer Jacopo Amigoni, seit 1717 in Bayern als Rokokomaler tätig, zeigt sich in seinem Selbstbildnis im Alter von gut 35 Jahren lässig, sympathisch und selbstbewusst – als einer, der die Welt mit eigenen Augen sieht.