Frankfurt a.M. – Vor der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie der katholischen Kirche im Rahmen der diesjährigen Herbst-Vollversammlung der Bischöfe in Fulda sind die Rufe nach Veränderungen im System der Kirche lauter geworden (Kommentar Seite 4). Kernzahlen der Untersuchung hatten bereits vorab für Schlagzeilen gesorgt: Laut Presseberichten sollen sich zwischen 1946 und 2014 fast 1700 Priester, Ordensmänner und Diakone an rund 3700 Kindern und Jugendlichen vergangen haben.
Die ehemalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan sagte: „Die Bedingungen für den Machtmissbrauch, für den Gewissensmissbrauch, dürfen nicht so gut sein, wie sie anscheinend bislang waren.“ Schavan sagte im RBB-Hörfunk, es brauche „tiefgreifende Veränderungen, die das Klima in der Kirche anders werden lassen als es in der Vergangenheit war“. Die Fälle von sexueller Gewalt in der katholischen Kirche seien ein schwerwiegender Vertrauensbruch. Bei der Aufklärung habe die Kirche zu stark ihren eigenen Schutz und nicht den der Opfer in den Vordergrund gestellt, sagte die CDU-Politikerin, bis 2008 Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken.
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, forderte, Kirche und Staat müssten bei der weiteren Aufarbeitung zusammenarbeiten. Rörig zeigte sich zutiefst erschüttert über die Ergebnisse der Studie. Wenn man weiteren Streit, Schaden und Leid für die Betroffenen verhindern wolle, müssten gemeinsame Wege zwischen Staat und Kirche für die Aufarbeitung gefunden werden, sagte er im SWR. Auch Externe sollten einbezogen werden.
Der Sozialpsychologe Heiner Keupp sagte, wenn die Kirche jetzt nicht ganz andere Wege einschlage, habe sie „sich selber ein Grab geschaufelt“. Keupp, der Mitglied der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs ist, sagte im SWR, die katholische Kirche stehe am Abgrund. Bisher fehle es an Respekt und Anerkennung für die Betroffenen. „Viele Opfer fühlen sich, wenn sie überhaupt an die Kirche herantreten, wie Bittsteller und werden oft auch genau so behandelt“, sagte der Sozialpsychologe.
Die evangelische Kirche zeigte sich offen für die von Rörig geforderte unabhängige Aufarbeitung über Fälle in den Kirchen. „Richtig an dem Vorschlag ist der Ansatz, dass eine sachgemäße Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs nicht durch die betroffenen Institutionen allein erfolgen kann“, sagte der Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Berlin, Martin Dutzmann.
Der Mitbegründer der katholischen Laienorganisation „Wir sind Kirche“, Christian Weisner, forderte staatliche Behörden auf, mehr gegen sexualisierte Gewalt hinter Kirchenmauern zu unternehmen. Die Missbrauchsstudie zeige nur die „Spitze des Eisberges“, da nicht alle sieben Bistümer ihre Archive geöffnet hätten, sagte Weisner dem Radiosender Bayern 2.
Der Kriminologe Christian Pfeiffer kritisierte die Missbrauchsstudie scharf und sprach von einer „organisierten Verantwortungslosigkeit“. Zwar sei die Erhebung vorbildlich und exzellent aufgearbeitet, sagte er der „Passauer Neuen Presse“. Doch das Entscheidende fehle: „Wir wissen nicht, wer die Verantwortlichen sind“. Wenn die Kirche das Vertrauen der Gläubigen zurückgewinnen wolle, müsse sie statt bloßer „verbaler Erschütterungsrhetorik“ offenlegen, wo sie Fehler begangen hat und personelle Konsequenzen ziehen, betonte der Wissenschaftler. epd/UK
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Rufe nach tiefgreifender Reform
Diskussion über Konsequenzen vor Veröffentlichung der Studie der katholischen Kirche