Hunderttausende Menschen fliehen vor Krieg, Gewalt, Zerstörung und Armut nach Europa. Die Aufnahme der Flüchtlinge stellt den Kontinent vor eine Herausforderung wie seit 70 Jahren nicht. Sie spaltet Völker, aber auch Meinungen in Deutschland. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird wegen ihrer Flüchtlingspolitik zum Sündenbock der Nation erklärt, auch mit unverhohlener Häme. Ein Kommentar aus den Reihen der Opposition.
VonGregor Gysi, Rechtsanwalt und früherer Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag
Mein Bild von Angela Merkel hat sich verändert. Lange Zeit zollte ich ihr für ein äußerst taktisches Geschick meinen Respekt. Man muss sich vorstellen: Sie wurde während der „Spendenaffäre“ der CDU als neues Gesicht gebraucht, wobei viele ambitionierte Politiker wohl insgeheim hofften, „Kohls Mädchen“ bald wieder geräuschlos entsorgen zu können. Wie wir wissen, kam es anders. Von Merz bis Koch blieb keiner mehr übrig. Dieses Geschick zeigte sich auch in ihrem Regierungsstil. Sie versucht, sich ein Bild möglicher Optionen zu machen und wählt, während sie andere debattieren lässt, die aus ihrer Sicht optimale aus. Jähe Wendungen, wie in der Energiepolitik, sind dabei allerdings nie ausgeschlossen. Aber das ließ für manche auch ein Defizit erkennen. Ist, so fragen sich konservativere Gemüter, die Kanzlerin denn wirklich noch konservativ, oder nicht eher eine Virtuosin bloßer Machtpolitik? Gibt es bei ihr einen Überzeugungskern?Auch ich habe mich das des Öfteren gefragt. Seit dem Spätsommer 2015 ist klar, dass es diesen Kern gibt: „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Sicher, seither versucht Angela Merkel an einigen Rädern und Schrauben zu drehen, um den Zustrom von weiteren Flüchtlingen zu verringern. Aber im Kern bleibt sie dabei. Sie lässt sich nicht einreden, dass das Grundrecht auf Asyl noch ein Grundrecht wäre, wenn „Obergrenzen“ eingeführt würden. Das klingt gut.Dennoch kann ich ihr eine Kritik nicht ersparen. Es ist richtig zu sagen: „Wir schaffen das!“ Alles andere wäre auch Unsinn, zumal die Flüchtlinge unabhängig davon kommen, ob man den Satz sagt oder nicht. Aber man muss natürlich auch sagen, wie das zu schaffen ist. Der Fehler bestand darin, die Kommunen und Länder bei der Bewältigung dieser immensen Aufgabe fast vollständig sich selbst zu überlassen. Dass die Bundesregierung von heute auf morgen ein absolut überzeugendes Superprogramm aufbieten könnte, halte ich auch für überzogen. Aber dass für die Bevölkerung in diesem Land sichtbar wird, dass man sich konzeptionell damit beschäftigt, wie aus Zuwanderung auch ein Gewinn werden kann, ist eine absolute Notwendigkeit, damit die Rechtspopulisten nicht weiter gewinnen. Noch ist die Mehrheit der Bevölkerung für eine fortschrittliche Integrationspolitik offen. Das darf nicht verspielt werden.