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Religionsunterricht für Menschen mit Behinderungen: Was bewegt sie?

Cathlin Pietsch ist pädagogische Unterrichtshilfe. Im Interview spricht sie über ihre Arbeit mit jungen Menschen mit Behinderungen an der August Hermann Francke-Schule in Berlin-Spandau.

In der August Hermann Francke-Schule lernen Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen zum Teil gemeinsam. Dafür wurde ein eigenes barrierefreies Schulgebäude errichtet, das für den gemeinsamen Unterricht eigene Inklusionszimmer zur Verfügung stellt.
In der August Hermann Francke-Schule lernen Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen zum Teil gemeinsam. Dafür wurde ein eigenes barrierefreies Schulgebäude errichtet, das für den gemeinsamen Unterricht eigene Inklusionszimmer zur Verfügung stellt.Frederic Schweizer

Die Spandauer August Hermann Francke-Schule der Johannesstift Diakonie wird von Kindern und Jugendlichen mit den Förderschwerpunkten geistige und körperliche-motorische Entwicklung besucht. Cathlin Pietsch ist hier seit 15 Jahren pädagogische Unterrichtshilfe und gibt gemeinsam mit einer Religionslehrerin vor allem Religionsunterricht. Wie sie mit Kindern und Jugendlichen mit Mehrfach- und Schwerstbehinderungen Themen des Glaubens und der Ethik bearbeitet und was die jungen Menschen am meisten berührt, erzählt sie im Interview.

Welche Kinder kommen in Ihren Religionsunterricht?
Cathlin Pietsch: Ich unterrichte Kinder und Jugendliche von der zweiten bis zur zwölften Klasse, bis zur achten Klasse teilweise auch in altersgemischten Gruppen. Die erste Klasse lassen wir immer aus, da müssen die Kinder erstmal ankommen. Denn viele von ihnen waren vorher ja nie in einer anderen Gemeinschaftseinrichtung. Ob die Kinder am Religionsunterricht teilnehmen, können die Eltern entscheiden. Aber es sind nur ganz wenige, die es nicht wollen.

Welche Themen bearbeiten Sie in Ihrem Unterricht?
Wir haben jedes Schuljahr ein großes Hauptthema. Letztes Jahr war es das Alte Testament, dieses Jahr ist es das Neue Testament und davor ging es um die Weltreligionen. Darüber hinaus orientieren wir uns an den Festen im Jahreskreis wie Ostern und Weihnachten. In diesem Rahmen schauen wir, welche Themen gerade zu uns passen. Oft sind es Geschichten aus der Bibel, die wir mit Figuren nachstellen und nachspielen. So bringen wir den Schülerinnen und Schülern das nahe, was uns die Geschichte sagen will. Die Kinder lieben das und sind total dabei. Es bleibt auch sehr viel hängen, das ist sehr schön zu sehen.

Welches Projekt verfolgen Sie aktuell?
Seit Januar bearbeiten wir das Thema „Ich bin einzigartig“. Es geht darum, was der oder die Einzelne mag, was sie und ihn besonders macht. Das mögen die Kinder sehr. Sie finden sehr viele Unterschiede und auch Gemeinsamkeiten untereinander und gehen auch nach dem Unterricht noch selbst auf die Suche.

Welche Themen kommen bei den Kindern und Jugendlichen gut an?
Was sehr gut bei Schülerinnen und Schülern ankommt, sind Themen, bei denen es am Ende auch um sie selbst geht. Das ist häufig mit Gleichnissen aus dem Neuen Testament möglich, zum Beispiel dem vom verlorenen Schaf. Hier wird erzählt, dass, als eines von 100 Schafen verloren geht, der Hirte das eine Schaf so lange sucht, bis er es findet, obwohl er noch 99 andere hat. In der Quintessenz geht es um die Botschaft: Jeder einzelne Mensch ist wertvoll. Auch unser aktuelles Thema „Ich bin einzigartig“ passt ja da rein. In dem Projekt haben wir in einer der vergangenen Stunden kleine Schachteln gebastelt und vor der nächsten Stunde Spiegelfolie eingeklebt. Ich habe die Schachteln dann wieder ausgeteilt mit der Ankündigung, dass da etwas ganz Besonderes drin zu finden sei. Und als die Kinder dann beim Öffnen sich selbst im Spiegel sahen, hat sie das schon sehr berührt.

Schattenschnitt-Porträts von Kindern und Jugendlichen der August Hermann Francke-Schule, entstanden im Projekt „Ich bin einzigartig“.
Schattenschnitt-Porträts von Kindern und Jugendlichen der August Hermann Francke-Schule, entstanden im Projekt „Ich bin einzigartig“.Cathlin Pietsch

Bringen die Kinder und Jugendlichen auch selbst Themen mit in den Unterricht?
Das passiert nur sehr selten, aber wir merken in Nachgesprächen, welche unserer Themen sie sehr beschäftigen. Meistens geht es dann um ihre Persönlichkeit und ihren Wert in der Familie und der Gesellschaft. Glaubensfragen hingegen kommen nur sehr selten. Die meisten Kinder bei uns stellen Gott erstmal nicht infrage. Aber viele unserer Themen sind ja auch ohne göttlichen Bezug spannend. Zum Beispiel die christlichen Werte des Miteinanders – die sind ja interessant für alle, auch Kinder anderer Religionen.

Geht es bei Ihnen auch um Fragen zum Sinn des Lebens oder der Zukunft?
Solche Fragen bringen die Kinder eher selten mit. Natürlich geht es in der Abschlussstufe oft um die Frage „Wie geht es weiter für mich?“ Das ist dann aber konkret am Beruf und am Wohnort orientiert: Wo wohne ich, wenn Mama und Papa nicht mehr da sind? Kann ich später arbeiten? Wir gehen dann zum Beispiel gemeinsam zu Tagen der offenen Tür. Dabei gibt es auch bei den Eltern oft Ängste und Unsicherheiten, und vieles müssen wir den Familien erst zeigen: Was gibt es überhaupt für Möglichkeiten zwischen Werkstatt oder dem ersten Arbeitsmarkt? Da vermitteln wir dann häufig auch erstmal, dass es vor allem darum geht, glücklich zu sein.

Schlagen sich gesellschaftliche Entwicklungen wie die Corona-Pandemie, die Klimakrise oder Kriege in Ihrem Religionsunterricht nieder?
Solche Themen kommen eher klassenintern zur Sprache, im Religionsunterricht weniger. Hier hat zum Beispiel Corona eher strukturell eine Menge verändert. Da wir Religionsunterricht ja meist klassenübergreifend machen, mussten wir während der Pandemie lange ganz verzichten, um zu viele Kontakte zu vermeiden. Das hat die Gruppenstrukturen schon sehr stark angegriffen und wir sind jetzt dabei, sie wieder aufzubauen. Die Kinder waren sehr froh, als es dann wieder losging.

Wie laufen die Stunden bei Ihnen ab?
In meinem Unterricht gibt es Kinder mit vielen verschiedenen Beeinträchtigungen. Dennoch klappt es für alle gut, dass wir einen festen Ablauf haben. Wir starten immer mit einem Begrüßungslied und schließen mit einem Abschlusslied. Und die beiden Lieder bleiben das ganze Jahr über gleich. Wenn die Kinder und Jugendlichen die Lieder hören, merken sie auch, dass sie im Religionsunterricht angekommen sind. Die Geschichten aus der Bibel, Spiele und Ausmalbilder sind weitere feste Punkte im Stundenverlauf. Gebetet wird bei uns nicht, denn wir haben ja Kinder mit verschiedenen Religionen.