Der zwölfjährige Nanning erlebt in “Amrum” die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges. Regisseur Fatih Akin spricht über den Nationalsozialismus in seinem neuen Film, seinen Mentor Hark Bohm – und die Filmgötter.
Es ist ein Geschenk an seinen Mentor Hark Bohm: Diesen Donnerstag kommt der Film “Amrum” des Hamburger Regisseurs Fatih Akin in die deutschen Kinos. Auf der nordfriesischen Insel erlebt der zwölfjährige Nanning, Bohms Alter Ego, die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges – zwischen dem Tod Hitlers und der Kapitulation des NS-Regimes, zwischen seiner Nazi-Mutter und Hitler-Gegnern. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht er über seine Beziehung zu Hark Bohm, über Nazis in der Familie – und über die Filmgötter.
Frage: Herr Akin, reden wir direkt über Hark Bohm, um dessen Geschichte der Film kreist. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu ihm beschreiben?
Antwort: Wir sind schon lange Freunde – und es ist eine ebenbürtige Freundschaft. Klar, er ist viel älter und weiß sehr viel mehr über das Leben als ich. Ich weiß andere Sachen übers Filmemachen als er, er weiß andere Sachen übers Filmemachen als ich. Freundschaft ist ein Geben und Nehmen – das ist bedingungslos. Leider ist er krank. Ich kann ihn im Augenblick nur sehen, wenn ich ihn besuche. Und da ich schon wieder im nächsten Film stecke, sehe ich ihn in letzter Zeit wenig. Eigentlich müsste ich viel mehr Zeit mit ihm verbringen.
Frage: Wie hat er reagiert, als Sie ihm den fertigen Film gezeigt haben?
Antwort: Er hat zwei Fassungen gesehen, eine frühe Fassung und den finalen Schnitt des Films. Hark war sehr gerührt und den Tränen nahe. Er ist ja ein Filmprofessor, der Noten vergibt. Ich glaube, er hat die Bestnote vergeben.
Frage: Am Ende des Films ist Bohm auch selbst zu sehen.
Antwort: Das war das allererste, was ich gedreht habe – schon vor zwei Jahren. Auch da ging es ihm bereits nicht so gut. Ich wollte unbedingt mit ihm auf seine Insel, auch um alles kennenzulernen und um einen persönlichen Eindruck zu bekommen.
Frage: Wie sah die Zusammenarbeit am Film aus – hat er viel reingeredet?
Antwort: Er hat mir komplette Freiheit gelassen. Hark hat handschriftlich eine erste Drehbuch-Fassung geschrieben, seine Frau hat das alles auf dem Computer abgetippt – das waren etwa 260 Seiten. Wir haben dann nur gesagt: “Hark, das musst du kürzen”. Dann waren es 220 Seiten. Ich habe ihn gefragt, ob ich es umschreiben darf.
Beim Durchgehen des Drehbuchs stach mir unter lauter Anekdoten eine besonders ins Auge, nämlich die, dass er seiner Mutter unbedingt ein Butterbrot mit Honig besorgen wollte. Das sollte der ganze Film sein, dachte ich. Also bin ich zu Hark und habe eine Art Pitch für ihn gehalten. Er stimmte zu – der Instinkt in ihm hat gesagt: “Lass Fatih mal machen.” Ab dem Moment gab mir Hark freie Hand. Aber unabhängig davon, dass Hark wollte, dass der Film gemacht wird, wollte auch der Film selbst gemacht werden.
Frage: Im Vorfeld von “Amrum” haben Sie gesagt, dass Sie Deutschland nicht den Nazis überlassen wollen. Ist das der Grund, warum dieser Film genau jetzt gemacht werden wollte?
Antwort: Der Film ist definitiv aktuell, auch wenn der Entstehungszeitpunkt des Films eher Zufall ist. Aber, ohne groß abergläubisch sein zu wollen: Ich glaube an solche zeitlichen Zufälle. Ich glaube absolut an Filmgötter, an Fügungen beim Film und daran, dass Zufälle ihre Richtigkeit haben. Schon in den ersten Fassungen hat man gespürt, dass das aktuell ist. Ich glaube, dass der Film auch viel Katharsis auslösen kann. Das merke ich an emotionalen Reaktionen, vor allem bei älteren Menschen, bei denen viele Tränen fließen. Das ist eine andere Form von Rührung.
Mein erster, persönlicher Ansatz war die Frage: Wie ist das, wenn du Nazis in der Familie hast? Da ist die Liebe oft im Konflikt. Deswegen sind auch viele Tierszenen in dem Film, weil diese Szenen von intuitiver Liebe erzählen. Auch die Liebe zwischen Hille, der Mutter, und Nanning, dem Sohn, ist intuitiv. Nun ist sie die Antagonistin und er der Protagonist, aber trotzdem ist die Liebe da – und sie ist gleichzeitig das Hindernis. Ich glaube, dass das in vielen deutschen, aber auch anderen Familien gerade passiert.
Frage: In “Amrum” werden die letzten Tage des NS-Regimes aus der Sicht Nannings gezeigt. Kann dieser Perspektivwechsel zu einer anderen Aufarbeitung der Nazi-Zeit beitragen?
Antwort: Ob das so sein wird, müssen die Zeit und das Publikum zeigen. Ich will aber auch sagen, dass dieser Perspektivwechsel keine Täterperspektive ist – es ist alles auf Augenhöhe mit dem Jungen. Der Junge ist kein Täter. Es geht nicht darum, eine Empathie zu schaffen, auch für die Mutter nicht. Aber wenn man die Liebe nicht glaubt, dann habe ich keinen Film. Da ist die Frage letztlich irrelevant, ob das die Täterperspektive berührt oder nicht.
Frage: Immer mehr Zeitzeugen sterben. Wie wichtig werden vor diesem Hintergrund Filme wie “Amrum”?
Antwort: Mich persönlich hat ein Film vollkommen für den Holocaust sensibilisiert. Als ich dieses Thema das erste Mal so richtig serviert bekommen habe, war ich 17 – bei “Schindlers Liste”. Ich bin dem Film sehr dankbar. Ich kenne natürlich die Diskussionen um den Film, den Vorwurf der Ästhetisierung. Aber ich kann für mich sagen: Mir hat der Film die Tür geöffnet, mich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen – mehr noch, als das durch die Schule passiert ist. Insofern hatte der Film bei mir durchaus eine erzieherische Kraft – ob das bei anderen Menschen aber genauso ist, weiß ich nicht. Wenn es so wäre, dann wäre die Welt ein besserer Ort.
Frage: Die Mutter, die im Film eisern an der NS-Ideologie festhält, spielt Laura Tonke. Was macht sie für diese Rolle so optimal?
Antwort: Sie hat eine gewisse Schrulligkeit, aber im positiven Sinn. Das kommt einerseits durch ihre Augen, aber auch durch ihre Stimme. Ich dachte: Diese Form von weicher Schrulligkeit finde ich richtig. Die Figur ist jetzt nicht im klassischen Sinn “schrullig” – es ging ja eben nicht darum, Empathie für die Mutter zu schaffen. Aber es musste einen Aspekt geben, den ich an der Figur lieben kann, ansonsten kann sie auch Nanning nicht lieben. Diese weiche Schrulligkeit hat mir geholfen, die Figur nicht zu hassen.