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Raus aus der Schublade

„Das sind die Zehn Gebote“, sagt Heidi Busse. Sie schiebt zehn künstlerische Darstellungen der Gebote, verpackt in großformatige Papphüllen, auf einem Rollwagen durchs Magazin. Busse wird noch den Versicherungsschein ausfüllen und eine Liste der Exponate sowie Bildbeschreibungen hinzufügen. Dann geht die kostbare Fuhre in den Lastenaufzug, in die Tiefgarage und von dort zu einer Kirchengemeinde, die sich bis zu sechs Wochen daran erfreuen darf. „Wir haben aber auch schon ein einzelnes Original verschickt: an einen Pastor für nur einen einzigen Kunstgottesdienst“, sagt Anna Luise Klafs, Studienleiterin für Kunst und Kirche im Pädagogisch-Theologischen Institut der evangelischen Nordkirche.

Seit 25 Jahren „behütet und ordnet“ Heidi Busse (77) die kircheneigene Grafiksammlung. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit Spendengeldern und Mitgliedsbeiträgen aufgebaut, um neu errichtete, ausgeraubte oder beschädigte Kirchen mit zeitgenössischer Kunst auszustatten. Die 40 Jahre jüngere Klafs ist als promovierte Theologin der Kopf hinter den Ausstellungen, die aus der Sammlung bestückt werden. „Das ist hier keine Privatsammlung. Sie war von Anfang an für die Öffentlichkeit gedacht“, sagt Klafs, und Busse ergänzt: „Kunst gehört nicht in Schubladen, sondern raus zu den Menschen.“

Kürzlich trat ein Künstlerkollektiv aus Duvenstedt mit dem Wunsch an sie heran, eine Schau zum Thema Gedächtnis der Erde zu veranstalten. Klafs entwickelte im Dialog passende Bildideen und Flyer, Plakate und Erklärtexte für die Ausstellung – Bestandteile von Kunstvermittlung, die anfragende Gemeinden meist gar nicht selbst leisten könnten. „Hier geht es nicht um Dekoration“, sagt sie energisch, „wir haben einen bildungspolitischen Auftrag“.

Und sie seien auch nicht die Kunsthalle. „Alle Arbeiten hier weisen für mich atemberaubende Schnittstellen zur Religion auf“, sagt Klafs. Etwa wenn Otto Dix in einem Holzschnitt die Verleugnung des Petrus darstellt: Ein Mann verbirgt voller Gram den Kopf in den Händen, hinter ihm kräht ein Hahn. „Dieses Bild kennt man aus jedem Religionsbuch – und wir haben davon ein Original!“

Klafs zieht weiße Baumwollhandschuhe über, öffnet eine unscheinbare Holzschublade und entnimmt einen Stapel mit Kunstwerken. Sie blättert neben bedeutenden Künstlerinnen und Künstlern aus Hamburg und Schleswig-Holstein eine Berühmtheit nach der anderen hervor: Werke von Joseph Beuys, Gerhard Richter, Marc Chagall, Ernst Barlach, Käthe Kollwitz, Alfred Kubin, Lovis Corinth, Arnulf Rainer, Oskar Kokoschka, Lyonel Feininger, Karl Schmidt-Rottluff und sogar von Andy Warhol stapeln sich im Archiv der Nordkirche. Zusammengenommen sind es rund 6.000 Druckgrafiken und Zeichnungen. „Es ist unerschöpflich“, sagt Busse und Klafs betont: „In der evangelischen Kirche gibt es bundesweit keine vergleichbare Sammlung.“

Nun zeigt Heidi Busse noch andächtig ihr Lieblingsblatt. „Große Kreuzigung“ aus dem Jahr 1913 von Wilhelm Morgner, einem westfälischen Maler und Grafiker des Expressionismus. „Schauen Sie mal die Farben und diese walrossartig gefiederten Hände und Füße. Der Maler war im Ersten Weltkrieg und wurde nur 27 Jahre alt.“

Die Sammlung besteht aus Werken von Kunstschaffenden des 20. Jahrhunderts, die meisten von ihnen mit Kriegserfahrung. Das zeigt sich in den Bildern: „Heimkehrer, Verletzte, gebrochene Persönlichkeiten. Wir dachten, wir hätten diese Themen überwunden, aber jetzt sind sie auch wieder in unserem Leben präsent“, sagt Klafs. Das macht die Sammlung so traurig aktuell und ihre Betrachtung so erschütternd und wichtig.