„Der junge Mann macht ständig Dummheiten“, empört sich das Schweizer Warenhaus „Globus“ in einem Einschreiben an den Vater des Mannes im Februar 1942, er beschädige Dekorationsmaterial, „sogar absichtlich“. Der junge Mann wird gefeuert. Sein Name: Jean Tinguely, geboren vor 100 Jahren am 22. Mai 1925 im schweizerischen Fribourg, gestorben 1991. Heute wird er als Erneuerer der kinetischen Kunst gefeiert, bei der es immer um Bewegung geht: Die meisten seiner Werke – oft Metallkonstruktionen aus Schrott – sind von Motoren angetrieben.
In die „Globus“-Filiale am Basler Marktplatz ist er damals für seine Lehre als Schaufensterdekorateur gekommen. Der Rausschmiss erweist sich als Startschuss für die Künstlerkarriere. Tinguely besucht zunächst Malkurse an der Basler Kunstgewerbeschule. Doch sein Lebenswerk prägt der originelle Umgang mit Dingen, vor allem der Einsatz von Weggeworfenem. Interpretiert werden Tinguelys Arbeiten oft als Ausdruck von Konsum- und Gesellschaftskritik.
Unangepasst bleibt er zeitlebens. Als Bildhauerrebell sprengt er herkömmliche Vorstellungen, bringt Kunst mit Elektro- oder auch Grammophonmotoren zum Laufen, sodass es rattert, scheppert und quietscht. Neben Eisenschrott platziert er Alltagsgegenstände wie Besen oder ein Dreirad in teils raumhohe Aufbauten – Tinguely, der Mann mit Radau im Blut.
Kleine wie große Museumsbesucher mögen das Getöse. „Jeder kann sein eigenes Konzert stattfinden lassen“, sagt Tabea Panizzi, die die Exponate im Museum Tinguely in Basel erläutert. Im Übrigen, ergänzt sie mit einem Lächeln, habe Tinguely Kunst für Museumsaufsichten machen wollen: „damit sie sich nicht langweilen“.
Tempo ist ein zentrales Tinguely-Thema. Er liebt schnelle Autos, fährt unter anderem Ferrari, richtet seinen Terminkalender nach der Formel 1 aus. Dennoch findet er Gefallen auch an nur einer Pferdestärke: Gern verbaut er Teile historischer Karussellpferde. „Kinder sind mein Lieblingspublikum“, sagte er.
Und er liebt Basels Fasnacht.1974 beschert er ihr einen legendären Moment im Rahmen einer Performance zusammen mit der nonkonformistischen Fasnachtsclique, der er bis zum Lebensende angehört: Die „Kuttlebutzer“ ziehen zum Basler Marktplatz im schwarzen Trauerzug samt Sarg mit Böllern und Federn, dessen Explosion Tinguely als Sprengmeister inszeniert. Ein lautstarker Gruß vielleicht auch an das Kaufhaus „Globus“.
Trotz seines Faibles für Action erwirbt er im beschaulichen Neyruz bei Fribourg in den 1960er Jahren ein ehemaliges Bauernhaus, damals bekannt als Wirtshaus zum Schwarzen Adler. Über der Tür steht das Datum 1893, vor dem Gebäude ist eine Futterkrippe erhalten. Unweit liegt das Gelände, auf dem ein Blitz einen benachbarten Bauernhof in Brand setzte.
Was übrig blieb, inspirierte Tinguely zu einem Hauptwerk: dem „Mengele-Totentanz“. Dem Künstler, der noch aus jedem Schrottteil etwas zu schaffen versteht, fallen auf dem abgebrannten Bauernhof in der Nachbarschaft Teile einer landwirtschaftlichen Pressmaschine derjenigen Firma in die Hände, die der Familie des NS-Verbrechers Josef Mengele gehörte, des Lagerarztes von Auschwitz. Tinguely fertigt daraus 1986 seine vielteilige „Totentanz“-Installation. Im Museum Tinguely füllt sie einen eigenen Saal. Totenstille herrscht dort.
Die Vorderachse seines Unfall-Mercedes integriert er 1990 in „Die Kaskade oder die stabilisierte Epilepsie“. Das Werk ist neben der zentralen Arbeit „Altar des westlichen Überflusses und des totalitären Merkantilismus“ ein Blickfang in dem Museum, das ihm und seiner zweiten Ehefrau Niki de Saint Phalle gewidmet ist, dem „Espace Jean Tinguely – Niki de Saint Phalle“ in Fribourg.
Katholisch erzogen, konzipiert er solche raumgreifenden Kreationen, die bewegliche Wimmelbilder sind, gelegentlich wie Altaraufsätze mit statischem Mittel- und beweglichen Seitenteilen. „Meine Angst ist eine metaphysische“, sagte er einmal.
Irdisch erquickend sind die berühmten Tinguely-Brunnen: Vier stehen allein im öffentlichen Raum. Denjenigen in Fribourg widmet er dem Formel-1-Fahrer Jo Siffert, den vor dem Basler Theater dessen Vorgängerbau. Der Fasnachtsbrunnen mit den sisyphushaft agierenden eisenharten Protagonisten steht dort, wo einst die Bühne des Theaters war. Es ist überdeutlich: Tinguely war gegen den Abriss.
Den Schöpfungen des Künstlers steht Jean-Marc Gaillard, Tinguelys langjähriger Assistent, am nächsten. Er weiß: „Man muss den Werken zugucken und zuhören.“ Gaillard ist heute Restaurator am Museum Tinguely, will „das Feuer weitergeben“, wie er Evangelischen Pressedienst (epd) sagt.
Kurz vor Tinguelys Tod am 30. August 1991 – er erliegt den Folgen eines Schlaganfalls – kracht es noch einmal ordentlich. Zur 700-Jahr-Feier der Schweiz im Jahr 1991 hält der patriotische Künstler auf dem Müllplatz in Neyruz eine Rede und kümmert sich um das traditionelle Feuerwerk. Einige Feuerwerkskörper explodieren jedoch unkontrolliert. Der Ort zuckt zusammen.
Auch Tinguelys letzte Ruhestätte auf dem Kirchhof in Neyruz, die ein bewegliches Kunstwerk krönt, ist keine Oase der Stille. Vorbei führt die Hauptverkehrsstraße, Tinguely hat immer Autos im Ohr. Perfekt für den Anhänger der Motoren.