Aufklärung über historischen und heutigen Antisemitismus – darauf setzen Schulunterricht und Gedenkstätten. Bildung allein reicht jedoch aus Sicht eines Psychologen nicht aus, um diese Form des Extremismus zu mildern.
Antisemitismus ist aus Sicht des Psychologen Wolfgang Hegener mehr als ein bloßes Vorurteil. Es handle sich stets um “eine tiefemotional begründete Weltanschauung”, die immer mit Schuldabwehr zu tun habe, sagte Hegener der Zeitschrift “Psychologie Heute” (März-Ausgabe). Zudem sei der heutige Antisemitismus in Deutschland – egal aus welchem Spektrum – “ohne die Schoah nicht verstehbar”.
Insofern reiche Bildung als vorbeugende Maßnahme nicht aus. “Dieser Ansatz ist viel zu kognitiv”, erklärte der Psychoanalytiker. “Die einzige Möglichkeit ist, sich der Schuld, die die Eltern und Großeltern auf sich geladen haben, emotional zu stellen und auf diesem Weg diese Projektionen nach und nach zurückzunehmen.” Als Beispiel nannte Hegener den sogenannten sekundären Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden vorwerfe, dass sie an die Schuld der Schoah erinnerten.
Wenn auf diese Art Schuld auf jüdische Menschen projiziert werde, sei die “ein Totalausfall der Reflexion”. Wer sich dem stelle, den “intensiven Schmerz der Schuld” empfinde und annehme, könne dagegen Empathie entwickeln – und auch wirklich erschrocken sein über den Angriff der Hamas auf Israel im vergangenen Oktober. Dieser erfülle “alle Kriterien eines antisemitischen Pogroms. Es war eben nicht einfach nur gegen Israel gerichtet”, so Hegener.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sei es hierzulande lange verpönt gewesen, Judenhass öffentlich zu äußern. Dadurch sei diese Einstellung in die private Sphäre abgedrängt worden und latent vorhanden geblieben, sagte der Experte. Laut Umfragen habe ab den 1990er Jahren die Ablehnung einer “Mitschuld am Massenmord an den europäischen Juden” in Deutschland wieder zugenommen: Seither sei versucht worden, “‘Normalität’ darzustellen, als sei der Zweite Weltkrieg nicht ein Vernichtungskrieg gewesen, sondern ein normaler Krieg.”
Geschichten, die heute im Internet kursierten, griffen indes “oft unbewusst auf alte Narrative zurück, die umgebucht und in neue Kontexte eingeordnet werden”. Diese Echokammern im Netz böten “die Möglichkeit, sich ungehemmt und unsanktioniert antisemitisch zu betätigen”. Wichtig sei, eine Kultur zu befördern, die auf Sündenböcke verzichte, sagte Hegener. Und: “Natürlich kann man auch in der alltäglichen Kommunikation auf sich achten: Wie spreche ich über andere? Wie reden wir über andere?”