Immer mehr Menschen befassen sich mit psychischer Gesundheit – sie lesen Ratgeber, hören Podcasts oder informieren sich im Netz. Fachleute raten von Selbstdiagnosen ab, sehen aber auch Chancen.
Im Straßenverkehr, im Supermarkt, in der Schule oder im Job: Manche Menschen haben dauerhaft das Gefühl, fehl am Platz oder überfordert zu sein, nicht dazuzugehören und nicht zurechtzukommen. Worüber lange kaum gesprochen wurde, ist in der Fachwelt zunehmend im Blick: “Neurodiversität verweist darauf, dass jeder Mensch die Welt nicht nur anders wahrnimmt und sieht, sondern auch anders erfährt und erlebt”, erklärt der Sozialwissenschaftler Marek Grummt.
Das Konzept der Neurodiversität – also einer Vielfalt des Nervensystems – entstand Anfang der 1990er Jahre; damals ging es um eine neue Bewertung von Autismus oder auch Behinderungen. Inzwischen beziehen einige Fachleute die Idee auch beispielsweise auf ADHS oder sogenannte Dyspraxien, also etwa motorische Schwierigkeiten. Weiterhin gebe es indes in der Gesellschaft ein bestimmtes Verständnis von Normalität und eine Bevorzugung derjenigen, die diesem Verständnis zu entsprechen scheinen, so Grummt: “Und diejenigen, die sich am Rand bewegen, haben Schwierigkeiten.”
Dabei koste es viel Energie, sich ständig anpassen zu müssen, um mit alltäglichen Situationen zurechtzukommen. Der Forscher mahnt zu mehr Toleranz: “Wir haben unterschiedliche Betriebssysteme, und das ist vollkommen in Ordnung.”
Auch in den Sozialen Medien wächst die Aufmerksamkeit für entsprechende Erfahrungen – eine Entwicklung, die Fachleute zwiespältig bewerten. Postings etwa zu ADHS trügen zur Aufklärung bei, sagte der Vize-Vorsitzende des Selbsthilfe-Dachverbandes ADHS Deutschland, Johannes Streif, kürzlich der “Thüringer Allgemeinen”. Doch zugleich bestehe die Gefahr einer einseitigen oder falschen Darstellung: “Statt in die Schublade einer Störung, wie dies früher oft der Fall war, werden Menschen mit einer ADHS heute mehr und mehr in die Schublade von egozentrischen Individualisten gesteckt, die ihr Handeln mit ihrer Neurodiversität erklären. Das finde ich schwierig.”
Dass ADHS heute häufiger diagnostiziert wird als noch vor einigen Jahren, hänge auch damit zusammen, dass sich mehr Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen befassen. Bei Schwierigkeiten am Arbeitsplatz oder in der Partnerschaft könne es sinnvoll sein, einen Facharzt aufzusuchen und sich untersuchen zu lassen, sagt Streif. “Ohne Probleme sollte man jedoch die Notwendigkeit einer Diagnose hinterfragen und die ADHS nicht als pauschale Erklärung für das Scheitern an alltäglichen Herausforderungen verwenden.”
Laut Grummt ist von einer hohen Dunkelziffer an nicht diagnostizierten Fällen von ADHS und Autismus auszugehen. Wer das Gefühl habe, dass zahlreiche Symptome auf ihn selbst zuträfen, für den sei professionelle Hilfe ratsam, so Grummt. “Allerdings ist es für Erwachsene sehr schwierig, so eine Diagnose zu bekommen. Mitunter gibt es mehrjährige Wartezeiten, bis man einen ersten Termin bekommt.” Wer sich selbst ohne Begleitung ständig beobachte, stehe in der Gefahr, zu stark auf negative Erfahrungen zu schauen – und sich das Leben selbst schwerer zu machen, als es sein müsste.
Angesichts hoher emotionaler Belastung, von der viele Menschen berichten, überwiegen jedoch aus seiner Sicht die Vorteile, wenn breit aufgeklärt wird. Sich in bestimmten Situationen fremd zu fühlen – etwa als weniger wohlhabender Mensch auf einer Millionärsparty -, sei “nur menschlich” und keineswegs eine “Neurodivergenz-Erfahrung”. Zugleich dürften Menschen nicht als krank abgestempelt werden, weil sie beispielsweise langsamer seien als andere, sich mit emotionalen Reaktionen schwertäten oder Erfahrungen erst einmal sacken lassen müssten.
Ein Kritikpunkt am Konzept der Neurodiversität ist, dass es eher jenen Diagnosen anhafte, “die trotz aller Probleme und auch Leiden einen gewissen Charme ausstrahlen”: Das schreibt der Psychologe und Publizist Theodor Schaarschmidt, selbst von ADHS betroffen, in der Zeitschrift “Psychologie Heute”. Eine Abstufung in der gesellschaftlichen Akzeptanz von Erkrankungen sieht auch Grummt – und gibt zugleich zu bedenken, dass beispielsweise Psychosen oder Zwangsstörungen eine massive Einschränkung sind: “Das geht weit über die Kritik der Neurodiversitätsbewegung hinaus.”
Dieser gehe es vor allem darum, “verschiedene Facetten der Menschlichkeit” anzuerkennen. Wichtig ist aus Grummts Sicht mehr gesellschaftliche Akzeptanz: ein Verständnis etwa dafür, dass psychisch erkrankte Menschen eben nicht arbeitsscheu sind oder das Bewusstsein, dass diese Erkrankungen jeden treffen können.
Darüber will auch die Psychologin Sophie Lauenroth aufklären – neben ihrem soeben veröffentlichten Buch mit Videos auf Instagram und Tiktok. “Ich bin froh, dass darüber mehr und mehr Menschen sprechen”, betont sie. Zu Vorsicht rät die Autorin mit dem Nickname @psychologin_sophie, wenn auf den Plattformen mit Heilsversprechen geworben werde. “Es ist nicht seriös, wenn jemand sagt: ‘Ich heile deine Ängste oder Traumata’. Psychologen geben eher an, dass sie jemandem helfen, mit den eigenen Problemen fertigzuwerden.” Sinnvoll sei es zudem, bei entsprechenden Angeboten zu prüfen, welche Ausbildung, welches Studium oder welche Zertifikate jemand habe.