Zuletzt ist die Suizidrate gestiegen. Fachleute fordern seit langem mehr Vorbeugung: Allein bauliche Maßnahmen könnten viel bewirken. Zugleich gelte es, düstere Gedanken ernstzunehmen – und darüber zu sprechen.
Wäre es nicht vielleicht das Beste, morgen einfach nicht wieder aufzuwachen? Wenn solche Gedanken wiederkehren, kann das der Beginn eines potenziell tödlichen Weges sein. “Tatsächlich kann man sich Suizidalität als Spektrum vorstellen”, schreibt der Psychiater Andreas Menke. Lebensüberdruss, der Verlust von Freude und der Wunsch nach Ruhe stünden häufig am Anfang. Gefährlich werde es, wenn aus den düsteren Gedanken der Wunsch werde, zu sterben – und wenn dessen Erfüllung gar geplant und vorbereitet werde.
Menke ist Ärztlicher Direktor und Chefarzt an der psychosomatischen Klinik Medical Park Chiemseeblick und Sprecher des dortigen Bündnisses gegen Depression. Kürzlich ist sein Buch “Depression. Wissen, was hilft” erschienen. Depressionen ließen sich mit einem schwarzen Teppich vergleichen, der sich über alles lege, erklärt er: die eigene Wahrnehmung, die kognitiven Fähigkeiten, mitunter auch die Beweglichkeit. Betroffene schätzten alles negativer ein, könnten sich schlecht konzentrieren oder sich Dinge merken.
Depressionen führen nicht zwangsläufig zu Suizidgedanken, und es gibt auch andere Gründe für einen Todeswunsch. Allerdings sei die Erkrankung trotz viel Aufklärungsarbeit weiterhin stigmatisiert, sagt der Experte. “Kaum jemand sagt: ‘Ich bin jetzt mal sechs Wochen nicht im Büro wegen Depressionen.'” Mit anderen Erkrankungen könne man offener umgehen. Und: “Die Stigmatisierung von Suizid ist nochmal größer als die Stigmatisierung von Depression.”
Dabei betont der Psychiater, dass Menschen “unbedingt” miteinander über dieses Thema sprechen müssten. Viele glaubten, dass Menschen, die ihre Suizidgedanken äußern, nur Aufmerksamkeit wollten. “Tatsächlich kündigen mehr als 75 Prozent ihr Vorhaben an. Nur leider nehmen dies die wenigsten ernst.”
Mit fatalen Folgen: Jeder 100. Todesfall in Deutschland ist ein Suizid. Bei den 10- bis unter 25-Jährigen war Suizid im vergangenen Jahr die häufigste Todesursache, noch vor Verkehrsunfällen und Krebs. Auch unter älteren Menschen sind die Zahlen angestiegen. Dies liegt teils daran, dass es mehr Menschen über 85 Jahre gibt als vor 20 Jahren; dennoch zeigten sich Hilfsorganisationen über diese jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes besorgt.
Ein Problem ist laut Menke, dass die meisten Mittel für einen Suizid unauffällig zu beschaffen sind: Wenn jemand etwa im Baumarkt entsprechende Einkäufetätige, falle das niemandem auf. “Also: auf jeden Fall ansprechen und Hilfe suchen”, rät er. Wenn Depressionen die Suizidgedanken auslösten oder verstärkten, dann sei diese Ursache gut behandelbar. “Es ist eine schwere Erkrankung, die man behandeln sollte, weil sie potenziell tödlich ist. Aber die Behandlungsmöglichkeiten sind gut”, betont er.
In diesem Zusammenhang warnt Menke vor Missverständnissen. Sprüche wie “du hast doch alles” oder “reiß dich zusammen” verstärkten das Leid für Betroffene zusätzlich, seien aber immer noch zu hören. “Auch der Rat, in den Urlaub zu fahren, ist wenig hilfreich. Dort hat ein depressiver Mensch eher den Eindruck: Alle sind entspannt und vergnügen sich – nur ich bin angespannt und kann mich nicht ablenken.” Sinnvoller sei es für Menschen im Umfeld von depressiv Erkrankten, zuzuhören und zu fragen, wie man helfen könne: “niemanden in Watte packen, aber einfach da sein und Verständnis signalisieren.”
Wenn nun vor einer Banalisierung des Themas gewarnt wird – auch weil sich zahlreiche Prominente zu ihren Erfahrungen mit Depressionen geäußert haben -, widerspricht der Psychiater: “Über Depressionen kann man gar nicht genug aufklären.” Es möge Einzelne geben, die sich damit wichtig machten. “Aber wenn jemand sagt ‘ich habe Diabetes’, empfindet das niemand als Wichtigmachen. Depressionen sind genauso eine Erkrankung, die als Erkrankung gesehen werden muss.”
Sprich: Niemand ist mit Depressionen besser oder schlechter, weder besonders noch komisch. Auf dem “Spektrum der Suizidalität”, wie Menke es nennt, könnten Menschen sich indes hin- und herbewegen. Wer düstere Gedanken etwa dem Hausarzt oder einer Psychotherapeutin anvertraue, müsse daher auch nicht befürchten, sofort in eine Klinik eingewiesen zu werden. “Das geschieht erst dann, wenn jemand nicht glaubhaft versprechen kann, sich nicht aktiv etwas anzutun, wenn das Ganze also außer Kontrolle geraten ist.”
Bis zu diesem Punkt gebe es die Chance, dass ein Todeswunsch nachlasse – und dass Betroffene sowohl Unterstützung finden als auch eigene Ressourcen nutzen könnten. Ab einer mittelgradigen depressiven Episode empfehlen Fachleute entweder eine Psychotherapie oder die Einnahme von Antidepressiva, bei einer schweren Form eine Kombination aus beidem. Ergänzen könnten dies Entspannungstechniken oder Kreativtherapien. “Bei uns gibt es Waldbaden, therapeutisches Segeln oder therapeutisches Klettern als weitere Bausteine”, sagt Menke: “Je mehr Bausteine, desto erfolgreicher die Therapie.”