“Loser”-Stempel schon im Kindergarten? Ein Psychiater kritisiert, dass Leistung immer früher über vermeintlichen Wert und Selbstbild entscheidet. Social Media spitze die Entwicklung weiter zu.
Die Sozialen Plattformen gaukeln nach Worten des Psychiaters Peer Abilgaard eine “Welt ohne Scheitern” vor. Dort vermarkteten sich alle selbst als erfolgreich, sagte Abilgaard in Oberhausen. Er äußerte sich beim Fachtag des Gezeiten Hauses zum Thema “Psychosomatik im Fokus. Seele programmiert Körper”. Gerade junge Menschen bräuchten jedoch Räume, in denen sie auch offen darüber sprechen könnten, wenn etwas nicht gelinge.
Niemandem mache es Spaß, sich mit eigenem Scheitern zu befassen, fügte der Gelsenkirchener Chefarzt hinzu. Dennoch sollte dies Teil der Psychotherapie-Ausbildung sein: Selbstreflexion sei grundlegend, um Patientinnen und Patienten angemessen begegnen zu können. Dazu gehöre auch die Aufklärung darüber, was in einer Therapie alles schiefgehen könne.
Bei Depressionen sei etwa die Hälfte der behandelten Personen nach einem Jahr symptomfrei oder annähernd symptomfrei, sagte Abilgaard unter Verweis auf Studien. Dieser Wert solle nicht entmutigen, aber von überzogenen Erwartungen an eine vollständige Heilung entlasten. Bei somatischen Krankheiten wie der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung COPD oder Morbus Crohn sei bekannt, dass diese unheilbar seien und das Ziel von Behandlungen sei, besser mit ihnen leben zu können. Auch in einer sachgerecht durchgeführten Psychotherapie könne es Probleme geben, etwa eine Idealisierung von Therapeut oder Therapeutin oder einen unerwarteten Krankheitsverlauf.
Grundsätzlich kritisierte der Psychiater, dass schon Kinder nach Leistung bewertet würden. Dies durchziehe die ganze Gesellschaft: “Wer weniger leistungsfähig ist, gilt als Loser – und selbst das wird im Fernsehen vermarktet. Das Publikum zu Hause denkt sich: ‘Was ein Glück, dass ich anders bin’.” Er warnte davor, Abweichungen zu pathologisieren: So unterschiedliche Künstler wie der Maler Carl Spitzweg (1808-1885) oder die Musikerin Amy Winehouse (1983-2011) zeigten, dass Kreativität eine kostbare Ressource sei.