Es geht nicht nur um einen Kriegsfall. DRK-Präsident Hermann Gröhe will den Zivil- und Katastrophenschutz ausbauen. Dafür braucht es Milliarden – so wie in anderen Bereichen.
Seit dem 29. November ist Hermann Gröhe Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) blickt der frühere CDU-Politiker und ehemalige Bundesgesundheitsminister auf die Herausforderungen, die im nächsten Jahr auf seinen Verband und die Gesellschaft warten.
Frage: Herr Gröhe, welche Krise in der Welt macht dem Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes mit Blick auf das kommende Jahr am meisten Sorgen?
Antwort: Wir haben den vierten Winter in der Ukraine seit der Ausweitung des bewaffneten Konflikts. Zugleich ist die Energieversorgung inzwischen zu einem großen Teil zerstört. Besondere Sorgen mache ich mir auch um die bei uns fast unbeachtete schreckliche Lage im Sudan. 30 von 50 Millionen Menschen in dem nordostafrikanischen Land brauchen dringend Hilfe. Und dann ist da natürlich die Situation in Gaza.
Frage: Wie sieht es dort aus?
Antwort: Die Lage für die Menschen in Gaza bleibt sehr, sehr schwierig. Es kommt zwar mittlerweile mehr Unterstützung in das Land. Als DRK liefern wir immer wieder Hilfsgüter wie Schlafsäcke und Hygieneartikel, so auch in den anstehenden Tagen. Aber wir brauchen endlich einen uneingeschränkten und sicheren Zugang zu der notleidenden Bevölkerung.
Frage: Tut Deutschland genug für die humanitäre Hilfe?
Antwort: Deutschland ist ein starker internationaler Helfer. Dass es jetzt jedoch bei der humanitären Hilfe zu ganz erheblichen Kürzungen gekommen ist, halte ich für kurzsichtig und einen Fehler. Dies steht in einem deutlichen Gegensatz zu dem wachsenden Bedarf. Wir haben in den vergangenen 25 Jahren mehr als eine Versechsfachung der bewaffneten Konflikte von 20 auf 130 erlebt. Weltweit sind 300 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Deswegen war es richtig, dass die Koalition aus Union und SPD in Berlin verabredet hat, die humanitäre Hilfe zu stärken.
Frage: Aber?
Antwort: Tatsächlich sind die Mittel halbiert worden: von 2,1 Milliarden Euro im vergangenen Jahr auf eine Milliarde Euro. Dabei bräuchten wir drei Milliarden Euro. Das würde der bitteren Not in vielen Teilen der Welt, aber auch unserer Wirtschaftskraft entsprechen. Wir können nicht die USA oder andere Länder ersetzen, die ebenfalls Mittel kürzen. Aber wir sollten unseren angemessenen Anteil tragen, und dazu hatte sich der Koalitionsvertrag bekannt.
Frage: Welche konkreten Folgen hat diese Politik?
Antwort: Dass wir deutlich weniger Menschen in Not helfen können. Spenden können die Lücken nicht ausgleichen. Im Sudan erreichen wir dank der engen Zusammenarbeit mit unserer Schwestergesellschaft, dem Sudanesischen Roten Halbmond, mit seinen 40.000 Freiwilligen im gesamten Land hilfsbedürftige Menschen. Aber es könnten mehr sein. Auch im größten Flüchtlingslager der Welt, in Cox’s Bazar in Bangladesch, müssen wir unsere Hilfe reduzieren.
Frage: Blicken wir auf das Inland und die Dauerbaustellen im Pflege- und Gesundheitswesen. Vor welchen Herausforderungen sieht der ehemalige Bundesgesundheitsminister das Deutsche Rote Kreuz?
Antwort: Eine große Herausforderung ist der Fachkräftemangel, gerade im Pflegebereich. Wir wollen ein möglichst guter Arbeitgeber sein und sind zugleich auf politische Unterstützung angewiesen. In diesem Zusammenhang begrüßen wir den Abbau von Bürokratie sowie die Tatsache, dass die Pflegekräfte künftig mehr Befugnisse erhalten sollen.
Frage: Sehen Sie bei diesen und anderen Themen Berührungspunkte zu anderen Organisationen und Wohlfahrtsverbänden wie Caritas, Diakonie und Arbeiterwohlfahrt?
Antwort: Auf jeden Fall. Wir arbeiten auf Bundesebene eng in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammen. Unser Sozialstaat steht vor wachsenden Bedarfen, die Gesellschaft wird älter. Gleichzeitig wissen wir, dass wir die Wirtschaftskraft unseres Landes nicht überfordern dürfen. Und schließlich wollen wir auch künftig gemeinsam das Subsidiaritätsprinzip, also den Vorrang bürgerschaftlichen Einsatzes vor staatlichen Angeboten, verteidigen.
Frage: Können Sie ein konkretes Beispiel für die Zusammenarbeit unter den Verbänden nennen?
Antwort: Ein aktuelles Beispiel sind die Briefe an alle jungen Erwachsenen in Sachen Wehrerfassung. Darin wird nun ausdrücklich auf die Freiwilligendienste hingewiesen. Das war eine Forderung, die die Wohlfahrtsverbände gemeinsam durchgesetzt haben.
Frage: Befürchten Sie nicht, dass durch die Konzentration auf den Wehrdienst die Freiwilligendienste unter die Räder kommen?
Antwort: In der letzten Runde der Haushaltsberatungen ist eine Ausweitung der Stellen im Freiwilligendienst finanziell abgesichert worden. Wir brauchen aber auch bessere Rahmenbedingungen bei den Freiwilligendiensten.
Frage: An was denken Sie konkret?
Antwort: Es geht nicht nur um eine bessere Vergütung, sondern auch um andere Zeichen der Anerkennung. Wie wäre es etwa mit einem Deutschland-Ticket für die, die Freiwilligendienste leisten, oder eine bessere Anrechnung bei der Bewerbung um einen Studienplatz?
Frage: Mehr Anerkennung fordern Sie auch für das Ehrenamt insgesamt.
Antwort: Hier geht es mir unter anderem um die Gleichstellung der Helferinnen und Helfer. Bei Feuerwehr und Technischem Hilfswerk können sie sich berechtigterweise von ihrem Arbeitgeber für Einsätze, Übungen und Ausbildungen freistellen lassen. Dieser Freistellungsanspruch sollte bundesweit im Bevölkerungsschutz auch auf das Deutsche Rote Kreuz und andere anerkannte Hilfsorganisationen übertragen werden.
Frage: Warum ist Ihnen das wichtig?
Antwort: Weil das Ehrenamt zentral für den Bevölkerungsschutz in Deutschland ist. Es trägt 90 Prozent der Einsätze. Menschen lassen alles stehen und liegen – beruflich und privat – und helfen ihren Mitmenschen. Das gilt etwa für schwere Unfälle genauso wie bei großflächigen Hochwasserkatastrophen.
Frage: Ist Deutschland im Bereich Katastrophen- und Zivilschutz gut aufgestellt?
Antwort: In den Gemeinden, Städten und Kreisen ist der vom Ehrenamt getragene Bevölkerungsschutz gut verankert. In fast jedem Dorf finden Sie die Freiwillige Feuerwehr oder das Deutsche Rote Kreuz. Das ist eine Stärke. Gleichzeitig sehen wir, dass die Herausforderungen etwa durch den Klimawandel, Pandemien, aber auch durch Bedrohungen von außen zunehmen. Dafür sind wir nicht gut genug aufgestellt. Wir müssen die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft stärken und brauchen daher einen nationalen Kraftakt.
Frage: Was meinen Sie damit?
Antwort: Deutschland hat den Bevölkerungsschutz jahrelang nicht im erforderlichen Umfang ausgestattet. Das müssen wir ändern. Das fängt an mit der Zusammenführung von Erster Hilfe und Selbstschutzinhalten in Kursen. Dadurch werden Menschen befähigt, nicht nur bei einer Flut, sondern auch bei einem lokalen Stromausfall das Richtige zu tun. Wir müssen mehr Pflegeunterstützungskräfte ausbilden. Das sind Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler, die etwa in Krankenhäusern helfen, wenn diese zum Beispiel aufgrund eines großen Unfalls an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit stoßen. Ein anderes Beispiel sind die mobilen Betreuungsmodule.
Frage: Mobile Betreuungsmodule?
Antwort: Die Module muss man sich in etwa so wie transportfähige Kleinstädte vorstellen. Sie können eine unabhängige Energieversorgung, eine Basisgesundheitsversorgung und Unterbringung sowie Verpflegung für 5.000 Personen sicherstellen. Vor fünf Jahren hat man gesagt, dass wir zehn dieser 35 Millionen Euro teuren Einheiten brauchen. Ein Modul ist bei uns finanziert, ein zweites anfinanziert. Es fehlen also noch mehr als acht. Aber im Bundeshaushalt steht dazu nichts. Grundsätzlich gibt es zwar mehr Mittel für den Bevölkerungsschutz. Das Geld ist jedoch vor allen Dingen für staatliche Behörden vorgesehen. Aber im Ernstfall wird der Bevölkerungsschutz zu einem großen Teil von den anerkannten Hilfsorganisationen wie dem DRK geleistet.
Frage: Über welche finanziellen Dimensionen reden wir?
Antwort: Wir brauchen für das DRK kurzfristig zwei Milliarden Euro, damit die erforderlichen Maßnahmen zügig nachgeholt werden können. Und dann pro Jahr eine Milliarde Euro. Das sollte uns eine Kernaufgabe des Staates wert sein.
Frage: In der Politik wird der Umgangston rauer. Sind Sie froh, nicht mehr in der ersten Reihe zu stehen?
Antwort: Ich hatte immer großen Spaß an der Politik und freue mich nun auf eine neue ehrenamtliche Aufgabe. Demokratie lebt nicht davon, dass wir alle dieselbe Meinung haben, sondern wie wir mit Meinungsverschiedenheiten umgehen. Wir sollten deswegen Herabsetzungen und Beleidigungen unbedingt vermeiden. Wenn wir inzwischen eine telefonische Anlaufstelle haben, an die sich Kommunalpolitikerinnen und -politiker im Falle einer Bedrohung wenden können, dann ist das genauso unannehmbar wie Angriffe auf Rettungskräfte.
Frage: In Ihrem neuen Amt werden Sie sich auch mit der Bundesregierung anlegen müssen. Haben Sie Ihren Parteifreund, Bundeskanzler Friedrich Merz, schon vorgewarnt?
Antwort: Friedrich Merz kennt und schätzt die Arbeit des Deutschen Roten Kreuzes sehr. Er hat mir persönlich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit angeboten. Darauf freue ich mich. Zugleich kennt er mich gut genug, um zu wissen, dass ich – wo nötig – nachdrücklich und hartnäckig für die Anliegen des Deutschen Roten Kreuzes eintreten werde.