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Politik und Medizin: Patienten besser durch Gesundheitssystem lotsen

Terminnot, überlaufende Notaufnahmen: Wie lassen sich Patientinnen und Patienten im Gesundheitssystem besser lenken? Das wird ein zentrales Thema der künftigen Bundesregierung. Ein Überblick.

Die Diagnose ist klar: Im deutschen Gesundheitswesen laufen die Kosten aus dem Ruder. Zugleich beschweren sich Patientinnen und Patienten über lange Wartezeiten auf Arzttermine. Und Rettungsdienste und Notfallambulanzen klagen über Überlastung.

“Patientensteuerung” heißt deshalb das neue Zauberwort, das offenbar auch bei den Koalitionsverhandlungen eine große Rolle spielt. “Ein wesentlicher Grund für lange Wartezeiten ist, dass zu viele Versicherte durch das Gesundheitssystem irren, ohne an den richtigen Behandlungsort zu kommen”, sagt Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen (vdek). So suchten 20 Prozent der Versicherten 2022 sechs oder mehr unterschiedliche Arztpraxen auf, zwei Prozent der Versicherten sogar mehr als zehn Praxen.

Auch bei der Notfallversorgung beklagen Politik und Ärzte eine dramatische Fehlsteuerung: “Allein die Zahl der Rettungseinsätze ist zwischen 2001 und 2022 von 8,5 Millionen auf 14 Millionen angestiegen”, sagte die Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, Gerda Hasselfeld, in einem KNA-Interview. Und Ärzte warnen: Ein Drittel der Patienten komme mit Bagatell-Erkrankungen in die Notaufnahmen, während wirkliche Notfälle warten müssen. Der Kölner Intensivmediziner Christian Karagiannidis erläutert, in die Notaufnahmen kämen extrem viele 80- bis 90-Jährige. Häufig stehe bei ihnen weniger eine schwere Erkrankung im Vordergrund als vielmehr ein Versorgungsproblem, das anderswo besser gelöst werden könne.

Für die Notfallversorgung hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bereits Gesetzentwürfe vorgelegt, die aber wegen des Endes der Ampel-Koalition im Bundestag hängengeblieben sind. Das Ziel: Hilfesuchende im Akut- und Notfall schneller in die passende Behandlung zu vermitteln. Kernstück sind so genannte “Akutleitstellen”, in denen Ärztinnen und Ärzte telefonisch oder per Video beraten und entscheiden, ob der Rettungsdienst erforderlich ist oder Patienten in Notdienstpraxen oder in der Notaufnahme der Krankenhäuser behandelt werden müssen. Auch an Krankenhäusern sollten Integrierte Notfallzentren entstehen, die die weitere Behandlung steuern und auch mit niedergelassenen Praxen kooperieren.

Eine bessere Patientensteuerung ist aber auch in der ambulanten Versorgung notwendig. Union und SPD haben sich laut Medienberichten in den Koalitionsverhandlungen auf Einführung eines “verbindlichen Primärarztsystems” verständigt. Ein einziger Arzt soll für Patienten erste Anlaufstelle sein und nur im Bedarfsfall an Fachpraxen weiterleiten. Dem Koalitionspapier zufolge könnte das System ab 2028 zu Einsparungen von zwei Milliarden Euro jährlich führen.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, begrüßte diese Pläne am Sonntag in der “Neuen Osnabrücker Zeitung”. “Dass sich jeder auf Kosten der Allgemeinheit aussucht, was ihm am besten passt, das ist weltweit einzigartig, aber nicht fair und definitiv nicht mehr länger leistbar und bezahlbar”, sagte er. Ein Primärarzt schaffe nicht die freie Arztwahl ab, ergänzte Reinhardt. Patienten sollten weiterhin ihre Ärzte wählen oder wechseln, “aber nicht mehr willkürlich jede Versorgungsebene nach Gutdünken ansteuern können”. Wer auf eine Behandlung jenseits der ihm angebotenen Wege bestehe, müsse sich dann auch selbst an den zusätzlichen Kosten beteiligen.

Allerdings liegt der Teufel im Detail: So betonte der Verband der Ersatzkassen kürzlich, dass reine Hausarztmodelle nicht funktionierten. Auswertungen zeigten, dass an solchen Programmen teilnehmende Versicherte weder weniger Facharztbesuche noch weniger Krankenhausaufenthalte hätten. Eine flächendeckende Umsetzung des Modells würde die Hausarztpraxen zudem bei etwa 75 Millionen Versicherten an ihre Kapazitätsgrenzen bringen und damit zu einem neuen Flaschenhals in der Versorgung führen.

Die Ersatzkassen hatten deshalb vergangene Woche ein eigenes Modell für eine bessere Patientensteuerung vorgelegt: Es sieht vor, dass jeder gesetzlich Versicherte für sein persönliches Ärzteteam einen Hausarzt und bis zu drei grundversorgende Fachärzte auswählen kann. Die Entscheidung für dieses Ärzte-Team soll verbindlich zunächst für ein Jahr gelten.

Dabei könnte der Versicherte Ärzte des Teams direkt und ohne Überweisung in Anspruch nehmen. Daneben sei es möglich, eine telemedizinische Ersteinschätzung per Telefon oder App zu nutzen, der sich bei Bedarf direkt eine Videosprechstunde anschließt.