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Pionier der Neurologie und Voyeur – 200. Geburtstag von Charcot

Das Wort ist fast so alt wie die – vermeintliche – Störung: Prägend für die moderne Sicht auf “Hysterie” war der Neurologe Jean-Martin Charcot. Seine Methoden sind heute umstritten, viele Erkenntnisse indes wegweisend.

“Sei doch nicht so hysterisch” – das wird heute seltener gesagt als vor einigen Jahrzehnten, aber es wird noch gesagt, überwiegend zu Frauen. “Psychische Diagnosen werden immer wieder gerne als ‘Kampfmittel’ eingesetzt”, erklärt die Psychoanalytikerin Diana Pflichthofer. Ein aus heutiger Sicht extremes Beispiel spielte sich vor rund 160 Jahren in Paris ab, im dortigen Krankenhaus Salpêtrière, das zuvor ein Armen- und “Irren”-Haus gewesen war.

Es ist ein schmuckes Gebäude, charakteristisch für die französische Hauptstadt: langgezogene, helle Fassade, in der Mitte die dunkle Kuppel der Kapelle, heute ergänzt um moderne Bauten der Universitätsklinik. Im 19. Jahrhundert wurde dieses Areal als “Moloch” beschrieben; bekannte Mediziner wie Sigmund Freud und Carl Gustav Jung praktizierten dort. Später starben hier Berühmtheiten wie Prinzessin Diana, die Tänzerin Josephine Baker oder der Philosoph Michel Foucault. Doch vor ihnen allen strömte das interessierte Publikum zu den Vorlesungen eines anderen Mannes: Jean-Martin Charcot, geboren vor 200 Jahren, am 29. November 1825.

Beispiel Multiple Sklerose: Die European Charcot Foundation will die Forschung zu dieser Erkrankung des Zentralen Nervensystems voranbringen. Sie trägt den Franzosen im Namen, der MS und Parkinson voneinander abgrenzte und bei der Erforschung von MS als Pionier gilt. Dasselbe trifft für Neuromyelitis optica zu, eine Autoimmunerkrankung, sowie für Charcot-Marie-Tooth, eine erbliche Erkrankung, die für Nervenschädigungen sorgt und nach ihren drei Entdeckern benannt ist. Als erster beschrieb Charcot auch die amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Es ist also nicht übertrieben, ihn als Begründer der modernen Neurologie zu beschreiben.

Nach einer Promotion über Gelenkneurotismus war er zunächst in einer Privatpraxis tätig, bevor er an die Salpêtrière kam, ab 1862 als Chefarzt. Auch heute noch darf als modern gelten, dass er körperliche Symptome und psychologische Aspekte miteinander verband, statt beides strikt zu trennen. Seit seiner Jugend faszinierte ihn allerdings ein Thema besonders, dem mit er aus heutiger Sicht fragwürdig umging: eben die Hysterie.

Expertin Pflichthofer zieht eine direkte Linie von Charcot zu heutigem “Psychotainment”. Sie beschreibt den Franzosen als “vielleicht ersten Erfinder einer psychischen Erkrankung, die durch ihn ‘modern’ wurde und fortan in aller Munde war”. Denn die Hysterie – deren Symptomatik man heute eher als Neurose, Epilepsie oder dissoziative Störung bezeichnen würde – wurde zwar bereits in der Antike beschrieben; der altgriechische Name bedeutet “Gebärmutter”. Doch es war Charcot, der hunderten Frauen – “Höllenfrauen”, wie es damals hieß – diese “Diagnose” stellte. In seinem ersten Jahr als Chefarzt kam es zu über 250 Todesfällen an der Salpêtrière.

In seinen berühmten Vorlesungen arbeitete er mit Hypnose, Rauschmitteln und Elektroschocks, führte die Frauen regelrecht vor. Pflichthofer geht es nicht darum, die medizinischen Durchbrüche Charcots auf anderen Feldern kleinzureden. Doch wenn er das Publikum animierte, den wehrlosen Frauen Befehle zu erteilen, dann ist die kritische Frage der Autorin durchaus berechtigt: Ob es nicht naheliege, dass es bei einem derartigen Machtmissbrauch “nicht um das Wohl der Patientinnen geht, sondern um die Inszenierung der ärztlichen Hybris”.

Modediagnosen – und Wellen entsprechender Krankheitsfälle – gibt es auch heute noch. Pflichthofer verweist zudem auf Konzerte, bei denen junge Frauen und Mädchen mitunter in Ohnmacht fallen: Dies könne – von den Beatles bis zur südkoreanischen Boygroup BTS – “aufgrund überschäumender Gefühle” geschehen “und vom unbewussten Wunsch getragen sein, Aufmerksamkeit zu erzeugen und gerettet zu werden”. In Begriffen wie “Beatlemania” klingt dieser fließende Übergang an.

1980 wurde die Hysterie aus der psychiatrischen Diagnostik gestrichen, fast 90 Jahre nach dem Tod Charcots. 1881 hatte er seinen eigenen Lehrstuhl erhalten; eine differenzierte Betrachtung seines Schaffens setzte Mitte des 20. Jahrhunderts ein.