Informationen über die Zeit der DDR bekommen junge Leute vor allem in der Familie oder im Netz. Das führt teils in die Irre, warnen Fachleute. Sie haben konkrete Ideen, was sich ändern müsste.
Schülerinnen und Schüler tragen Kappen mit der Aufschrift “ostdeutsch”, manche Lehrkräfte behandeln die SED-Vergangenheit nach eigener Aussage “kurz und pflichtgemäß” – aufgrund von Druck aus Elternkreisen. Die beiden Beobachtungen, die Niko Lamprecht nach einer Tagung schildert, lassen aufhorchen. “Bei so einer Mützenaufschrift denkt man sich zunächst nicht viel”, sagt der Bundesvorsitzende des Verbandes der Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer. “Aber in manchen Fällen steckt dahinter eine identitätspolitische Umdeutung. Da entsteht eine neue Wagenburg-Mentalität – 35 Jahre nach dem Mauerfall.”
Mit “Umdeutung” meint Lamprecht, der auch Schulleiter eines Wiesbadener Gymnasiums ist, Aussagen wie: Die DDR habe doch auch Gutes gehabt. SED-Diktatur und Stasi-Überwachung, das sei doch halb so schlimm gewesen.
Solche Erzählungen halten sich mitunter in Familien, und vor allem finden sie neuen Nährboden in den Sozialen Netzwerken. “Mythen, Fake Facts und verharmlosende Deutungen nehmen zu”, warnten Fachleute zuletzt. Die jüngere Vergangenheit werde zu einem “Selbstbedienungsladen, aus dem Populisten und Extreme ihre Propaganda schöpfen”, heißt es in einer Resolution, die auf dem Bundeskongress zur Aufarbeitung der SED-Diktatur verabschiedet wurde. Unterzeichnet ist sie auch von der SED-Opferbeauftragten Evelyn Zupke sowie der Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Anna Kaminsky.
Jana Brahmann sieht seit der Corona-Pandemie einen verstärkten Schwund an historischem Wissen. Eckdaten wie das Jahr des Mauerbaus seien meist bekannt, Zusammenhänge würden jedoch kaum hergestellt, sagt die Politikwissenschaftlerin und Historikerin.
Brahmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Bildung und Vermittlung der Stiftung Hohenschönhausen, die die Gedenkstätte am historischen Ort in Berlin betreibt. In der Stasi-Untersuchungshaftanstalt wurden zwischen 1946 und 1989 über 11.000 Menschen gefangen gehalten, körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt. Wenn sie Gruppen frage, wer wisse, warum das Gefängnis in Hohenschönhausen geheim gewesen sei, dann vermuteten junge Besucherinnen und Besucher desöfteren: “Wegen der Juden?”
Allerdings, so Brahmann: “Viele Schulklassen besuchen morgens die Berliner Mauer, nachmittags dann uns, am Vortag waren sie vielleicht in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen. Das können sie so schnell gar nicht sortieren.” Zudem fielen Unterrichtseinheiten zur DDR- und SED-Geschichte zum Schuljahresende oft hintenüber. Lamprecht sagt, man könne den Geschichtsunterricht zum Thema DDR nicht beliebig ausdehnen. Aber: “Die Lehrpläne müssen es hergeben, dass man das Thema vertiefen und Entwicklungen sauber darstellen kann.”
In Workshops der Gedenkstätte begegnen junge Menschen auch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen – und sehr häufig melden sie Brahmann zurück, dass sie sich künftig mehr mit dem Thema befassen wollen. “Inwiefern das wirklich passiert, können wir nicht überprüfen.” An dieser Stelle seien Lehrkräfte gefragt, das vorhandene Interesse an historischen Themen aufzugreifen.
Umgekehrt stellen die Fachleute von der Stiftung gezielte Materialien für den Unterricht zur Verfügung – sei es für die Abiturprüfungen oder um den Besuch einer Gedenkstätte vor- oder nachzubereiten. Ebenso gibt es Fortbildungen für Lehrkräfte. “Da bräuchte es eine noch bessere Vernetzung”, sagt die Gedenkstättenpädagogin.
Verpflichtende Besuche an Gedenkstätten, wie sie immer wieder gefordert werden, lehnen beide ab. “Ein grundlegendes Interesse muss vorhanden sein, sonst bleibt nichts hängen”, sagt Brahmann. Lamprecht sieht bei “angeordneten” Ritualen zudem die Gefahr, dass sie eher auf Widerspruch stoßen. Bestes Beispiel sei die ritualisierte und verpflichtende Gedenktagkultur der DDR, die wenig nachhaltig wirkte. “Aber natürlich wollen wir die Besuche befördern. Hilfreich wären bürokratische Vereinfachungen, etwa über ein Budget- oder Gutscheinsystem.” Bislang müssten Lehrkräfte für Genehmigungen und finanzielle Zuschüsse “von Pontius zu Pilatus laufen”.
Doch können einzelne Aktivitäten dem massiven Einfluss von Social Media etwas entgegensetzen? Dort würden “eigene Mythen” gestrickt, warnt Lamprecht. Quellen zu prüfen, kritisch nachzufragen – solche Techniken würden in der Gedenkstätte durchaus thematisiert, sagt Brahmann. Der Blick in die Geschichte könne verdeutlichen, wie wichtig es sei, die eigene Meinungs- und Protestfreiheit zu nutzen. Bei der Präsenz von Gedenkstätten in den einschlägigen Kanälen gebe es Luft nach oben; dies scheitere an fehlendem Personal.
Die Bezüge zur heutigen Zeit böten jedoch weitere Chancen. “Wir sprechen viel über die Mechanismen von Diktaturen und über politische Verfolgung. Viele Schülerinnen und Schüler ziehen selbst Parallelen dazu, wo es heute Verfolgung oder Einschränkungen gibt”, berichtet die Wissenschaftlerin.
Wenn jemand eigene Erfahrungen teilt, sorgt das nach Beobachtung von Lamprecht oft für besondere Momente. Er nennt ein Beispiel: “Bei einer Zeitzeugen-Veranstaltung zur DDR reagierte die Schülerschaft zunächst ein bisschen lahm. Dann sagte ein geflüchteter Junge aus Afghanistan: Ich komme aus einer Diktatur. Ich weiß, was es bedeutet, in Lebensgefahr zu sein, weil der eigene Vater das Falsche gesagt hat. Merkt euch das.”