Wie viel Neutralität kann sich ein Staat wie Österreich in Zeiten von Krieg in Europa noch leisten? Dieser Frage musste sich das Land zuletzt immer wieder stellen. Die Alpenrepublik ist längst ins Visier Moskaus geraten.
Schnitzel, Mozart, Skisport – und Neutralität: Sie gelten in Österreich als inoffizielle Nationalheiligtümer. Um letztere ist spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine eine anhaltende Diskussion entbrannt. Am Nationalfeiertag am 26. Oktober wird Österreichs Neutralität 70 Jahre alt. In seinem Neutralitätsgesetz verpflichtet sich das Land, “keinen militärischen Bündnissen beizutreten”. Tabu sei außerdem die “Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete”.
Die Neutralität der Alpenrepublik sei ein Kind des Kalten Krieges, erklärt Hannes Leidinger. Der Historiker an der Universität Wien verweist auf eine Umfrage von 1947. Sie zeigte: Drei Viertel der angesprochenen Österreicher liebäugelten mit einer “zweiten Schweiz” ohne Bindung an die feindlichen Blöcke. Man betonte, nicht gesinnungs-, aber paktfrei zu sein, neigte aus wirtschaftlichen Gründen aber zu den Vereinigten Staaten. “Ein US-Diplomat fasst die Widersprüche pointiert zusammen: Österreich will praktisch neutral auf der westlichen Seite sein.” Ab 1954 favorisierten sowohl Washington als auch Moskau das “Schweizer Modell”. Die Wiener Regierungskoalition knüpfte daran an, um vor allem eines zu erreichen: die staatliche Souveränität, das Ende der Besatzungszeit.
Allerdings machen Beobachter auf einen Punkt aufmerksam, der in den vergangenen Monaten zunehmend an Bedeutung gewonnen hat: Die Neutralität ist militärisch nicht garantiert. Laut Kritikern hat die Regierung in Wien viel zu spät die Notwendigkeit erkannt, das Bundesheer “nachzurüsten”. Es gilt als zahnloser Tiger. Dabei sei Österreich längst zum Ziel der hybriden Kriegsführung Moskaus geworden.
Für Aufsehen sorgte im Spätsommer Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedew. Er drohte: Sollte Österreich der NATO beitreten, könnte das Bundesheer in die “Einsatzpläne der russischen Streitkräfte einbezogen werden”. Experten werten dies vor allem als innenpolitische Botschaft: Das Säbelrasseln komme in Russland mindestens genauso gut an wie die persönlichen Angriffe gegen Österreichs Außenministerin Beate Meinl-Reisinger.
Die Vorsitzende der liberalen Neos wurde zu einer bedeutenden Fürsprecherin der Ukraine. Seit ihrem Amtsantritt im März besuchte sie das Kriegsland bereits drei Mal. Rückendeckung bekommt sie von Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP). Während ein NATO-Beitritt für Österreich aktuell nicht infrage komme, betonte der Regierungschef mit Blick auf Russland: “Wir sind nicht moralisch neutral. Recht und Unrecht können wir unterscheiden.”
Die Gratwanderung zwischen militärischer und politischer Neutralität macht Österreich verwundbar. Die Alpenrepublik müsse daher ihre internationale Rolle neu erfinden, forderten zuletzt Fachleute aus Heer und Politik. “Wir können nicht so tun, als wären wir noch wie vor 50 Jahren mitten im Kalten Krieg zwischen Westen und Ostblock und als gäbe es keine Europäische Union”, so der österreichische Politologe Peter Filzmaier in der “Kronen Zeitung”.
Auch Chefdiplomatin Meinl-Reisinger hält eine ehrliche Debatte über Österreichs Neutralität für “notwendig”. Während die Bevölkerung mehrheitlich an dem Status festhalte, sei dieser noch lange “kein Sicherheitskonzept”. “Wir erkennen die Zeichen der Zeit. Wir müssen in das österreichische Bundesheer investieren und in die Verteidigungsfähigkeit Europas.” An einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas müsse Österreich auch als neutraler Staat mitwirken.
Aus Sicht von Historiker Leidinger ist Österreich mit seiner “aktiven Neutralität” bisher gut gefahren. Seit Jahrzehnten ist Wien Sitz etlicher UN-Agenturen, der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Auch als neutraler Partner könne Österreich für Menschenrechte und Frieden eintreten, was von diplomatischer Vermittlung bis hin zur Entsendung von Friedenssoldaten reiche. Aktuelles Problem sei weniger Österreichs Konzept von Neutralität an sich – sondern Staaten wie Russland, die Österreich ihre Neutralität absprächen. “An dem können wir im Augenblick aber nichts ändern.”