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“Nur eine kurzfristige Maßnahme”

Seit Jahresbeginn zahlen Beschäftigte in Deutschland mehr Pflegebeiträge. Der allgemeine Beitragssatz stieg von 3,4 auf 3,6 Prozent, für Kinderlose gibt es Zuschläge, für Eltern Abschläge. Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Haan hält weitere Einnahmesteigerungen für die Pflegekassen für notwendig, unter anderem durch eine Verzahnung von gesetzlicher und privater Pflegeversicherung. Haan ist Professor für empirische Wirtschaftsforschung an der Freien Universität Berlin. Er leitet außerdem beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Abteilung Staat.

epd: Herr Haan, wie viel Geld bringt die aktuelle Beitragserhöhung den Pflegekassen, und für wie lange reicht das?

Peter Haan: Es reicht jedenfalls aus, um die Pflegeversicherung kurzfristig zu stabilisieren. Ohne diese Erhöhung stünde sie kurz davor, ihre Leistungen nicht mehr finanzieren zu können. So können zumindest für 2025 die höheren Kosten abgedeckt werden. Für diese Kosten gibt es mehrere Treiberfaktoren: Einerseits steigt demografisch bedingt die Anzahl von pflegebedürftigen Menschen. Andererseits sorgen Reformen und der Fachkräftemangel dafür, dass in der Pflege höhere Löhne gezahlt werden. Personalkosten haben den größten Anteil an den Gesamtkosten, aber die anderen Kosten beispielsweise für Verpflegung oder Unterkunft steigen aufgrund der Inflation auch.

epd: Die Löhne sind im vergangenen Jahr auf breiter Front gestiegen, und damit auch die Summe der abgeführten Pflegebeiträge. Kann das die Kostensteigerungen bei der Pflege nicht ausgleichen?

Haan: Nein. Auch deshalb nicht, weil die Lohnsteigerungen im Pflegesektor in den vergangenen Jahren deutlich höher ausgefallen sind als im Schnitt von anderen Sektoren.

epd: Ohne grundsätzliche Reformen wird das zusätzliche Geld durch die aktuelle Beitragserhöhung vermutlich nicht lange reichen, oder?

Haan: Völlig richtig. Die Erhöhung der Sozialbeiträge ist nur eine kurzfristige Maßnahme. Die große Pflegereform, die die Ampel-Regierung noch durchziehen wollte, ist nicht mehr gekommen. Aus meiner Sicht ist das eines der wichtigsten Themen für eine neue Bundesregierung. Diese muss schnell strukturelle Reformen umsetzen, damit es in den nächsten Jahren eine breite Finanzierungsbasis für die Pflege gibt. Denn die Nachfrage nach Pflege wird in den nächsten Jahrzehnten steigen, und auch der Fachkräftemangel wird bestehen bleiben, weswegen die Löhne weiter steigen werden. Die Kostensteigerungen werden also nicht weniger werden.

epd: Die Frage wäre, wo man bei Reformen ansetzen sollte: Begrenzung der Ausgaben oder Schaffung neuer Einnahmen?

Haan: Das ist eine gesellschaftliche und politische Frage. Wenn wir eine auskömmliche, gute Pflege bereitstellen wollen, können wir nicht kürzen, sondern müssen in den Bereich Pflege mehr investieren. Die Situation ist schon heute in vielen Bereichen problematisch. Das individuelle Risiko, ein Pflegefall zu werden, ist deutlich höher als beispielsweise das Risiko, arbeitslos zu werden oder schwer zu erkranken. Die meisten von uns werden irgendwann ein Pflegefall werden, insofern sollten wir alle ein Interesse haben, dass es eine zufriedenstellende Absicherung gibt. Ich sehe keine Möglichkeit, die Kosten groß zu reduzieren. Daher muss etwas bei der Einnahmenseite getan werden.

epd: Was wäre hier ein gangbarer Weg? Weiter die Beiträge erhöhen oder Steuermittel in die Pflege umleiten?

Haan: Ich glaube, eine Kombination aus mehreren Dingen. Quellen sind die Sozialversicherung und Steuern. Man könnte außerdem überlegen, die gesetzliche und die private Pflegeversicherung zu verbinden. Die Risikostruktur bei der gesetzlichen Versicherung ist deutlich ungünstiger als bei der Gruppe der privat Versicherten. Die Daten zeigen, dass Menschen mit geringerem Einkommen, die in der Regel gesetzlich versichert sind, länger pflegebedürftig sind als Menschen mit höheren Einkommen. Wenn man beide Versicherungen zusammenführen würde, könnten die Kosten für die gesetzliche Versicherung reduziert werden. Wie groß dieser Effekt ist, ist schwer zu quantifizieren, aber als dritter Baustein sollte diese Reform berücksichtigt werden.

epd: Diskutiert wird auch eine Beitragspflicht aller, also auch Selbstständiger und Beamter, und aller Einkommensarten, also auch Kapital- und Mieterträge. Wie bewerten Sie das?

Haan: Wenn alle Einkommensarten bei der Sozialversicherung berücksichtigt wären, würde die Sozialversicherung der Einkommenssteuer noch ähnlicher. Dann kann auch gleich der Steueranteil steigen. Der Einbezug von Selbstständigen und Beamten geht in dieselbe Richtung wie eine Verbindung von privater und gesetzlicher Versicherung. Wenn wir diese beiden Arten besser verzahnen würden – entweder durch eine echte Bürgerversicherung oder durch Ausgleichszahlungen -, dann hätten wir viel erreicht.

epd: Kassen und Sozialverbände fordern, versicherungsfremde Leistungen aus der Pflegeversicherung herauszunehmen. Konkret geht es dabei um die Behandlungspflege, die aus der Krankenversicherung bezahlt werden solle. Würde das substanziell helfen?

Haan: Aus Sicht der Beitragszahlenden wäre es ein Nullsummenspiel, wenn wir die Kosten aus der Pflege- in die Krankenversicherung schieben.

epd: Und wie sieht es mit den Rentenbeiträgen pflegender Angehöriger aus? Hier wird immer wieder gefordert, sie aus Steuermitteln zu bezahlen.

Haan: Das wäre eine Möglichkeit. Wenn wir darüber sprechen, dass mehr Steuern für die Pflege verwendet werden sollen, ist eine Begründung notwendig.

epd: Wenn es kurzfristig keine Möglichkeit zur Kostensenkung gibt, dann vielleicht langfristig?

Haan: Um langfristig die Kosten zu senken, sind Investitionen in unsere Gesundheit schon während der Erwerbsphase wichtig. Wir dürfen nicht nur an dem jetzigen System herumdoktern, sondern müssen Maßnahmen ergreifen, damit die Wahrscheinlichkeit einer Pflegesituation geringer ist und deren Dauer kürzer. Investitionen in die Gesundheit helfen ja nicht nur der Pflegekasse, sondern auch den Kranken- und Rentenkassen, denn je mehr wir in Gesundheit investieren, desto länger bleiben die Menschen gesund und können in die Kassen einzahlen. Wenn wir über Reformen sprechen, müssen wir also Prävention mitdenken. Die kostet natürlich kurzfristig Geld, aber langfristig sind diese Investitionen extrem wichtig.