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Neue Indizien in einem alten Fall

Ein neues Forschungsprojekt will rund 20 000 Porträts des Reformators Martin Luther so genau wie niemals zuvor unter die Lupe nehmen. Dabei kommt modernste Technik zum Einsatz

epd

Daniel Hess und Anselm Schubert wirken ein wenig wie Kriminalkommissare, die auf neue Indizien in einem alten ungelösten Fall gestoßen sind. Voll Begeisterung erzählen der Kunsthistoriker und der Kirchengeschichtler, wie sie einem Künstler und seinem Motiv auf der Spur sind: Der Künstler ist Lucas Cranach der Ältere (1472-1553), das Motiv der Reformator Martin Luther.

Erkenntnisse mit der Hilfe neuester Technik

Hess, stellvertretender Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg, und Schubert, Professor am Lehrstuhl für Neuere Kirchengeschichte an der Universität Erlangen, wollen demnächst Licht in ein kunsthistorisches Durcheinander bringen. Cranach prägte die Darstellungen von Luther, die große Verbreitung fanden. Geklärt werden soll nun mit Hilfe der neuesten Technik digitaler Mustererkennung und physikalischer Analysen, welches Lutherporträt wann entstanden ist.
„Man denkt, zu Luther ist schon jeder Stein umgedreht worden, aber die Bildnisse hat noch keiner untersucht“, sagt Schubert. Der Reformator Martin Luther (1483 bis 1546) war ein Medienstar. Von keinem Menschen seiner Zeit gibt es mehr Bilder. Aber auf die Datierungen von Luther-Porträts, sowohl der Gemälde als auch der Stiche, kann man sich überhaupt nicht verlassen, sind Hess und Schubert überzeugt. „Da kommt etwas in der Kunstgeschichte ins Rutschen“, sagt Hess. Mit Erstaunen hat er festgestellt, dass man sich, seit es die Kunstgeschichte als Wissenschaft gibt, immer auf Jahreszahlen und Datierungen auf den Werken verlassen und sie nie infrage gestellt hat. „Das ist doch Käse“, schüttelt er den Kopf.
Wenn Lucas Cranach unter ein Porträt von Luther einst eine Jahreszahl schrieb – war es das Jahr der Werksvollendung oder wollte er dem Bildbetrachter sagen, wie Luther beispielsweise im Jahre 1522 aussah? Um auf Fragen wie diese Antworten zu finden, stehen nun Naturwissenschaftler in Erlangen und an der Technischen Hochschule Köln mit ihren Apparaten bereit. Sie sollen 20 000 Drucke, die Martin Luther darstellen, unter modernste Scanner legen, die das Alter von Holz, Farben, verwendeten Druckplatten und Papier genauestens bestimmen können. Aber sie erkennen auch haargenau die Schemata, die den Abbildungen zugrunde liegen. „Das sind Peanuts für sie, versichern die Computerfachleute“, berichtet Schubert.

Beitrag der Wissenschaft zur Lutherforschung

Der interdisziplinäre Ansatz des Forschungsprojekts und die geplanten Methoden hätten wohl dazu geführt, dass die Leibniz-Gemeinschaft für die kommenden drei Jahre den beteiligten Wissenschaftlern knapp eine Million Euro gibt, sagt Schubert. Offizieller Beginn der Arbeit war am 1. Juni.
Von einer „neuen Akkuratesse“ in der Chronologie der Luther-Abbilder erhoffen sich die Forscher auch Unterstützung in anderen Fragen. Wann setzte der „evangelische Heiligenkult“ um Martin Luther in protestantischen Kirchen ein? Ist das bekannte Bild von Luther als Junker Jörg zuvor ein Selbstbildnis von Lucas Cranach gewesen?
In der zurückliegenden Lutherdekade, die dem Reformationsjubiläum im Jahr 2017 vorausging, sei der Beitrag der Wissenschaft zur Lutherforschung „gleich null“ gewesen, kritisiert der Theologe. Ein paar Jahre nach dem reformatorischen Großereignis könnten er und seine Mitstreiter eventuell ein paar Ergebnisse nachreichen.

– Internet: www.gnm.de.