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München lässt Missbrauch in Heimen wissenschaftlich aufarbeiten

Erste Anerkennungsleistungen für erfahrenes Leid in Kinderheimen der Stadt München sind bereits erfolgt. Nun soll das Deutsche Jugendinstitut für die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschehnisse sorgen.

Das Leid, das Kinder und Jugendliche in Heimen der Stadt München erfahren haben, soll wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Mit der Aufgabe wurde das Deutsche Jugendinstitut (DJI) betraut, wie die Stadt am Dienstag bekanntgab. Im Rahmen eines Kooperationsprojektes gehe es darum, die Geschehnisse in städtischen Einrichtungen, Pflege- und Adoptivfamilien von 1945 bis zur Gegenwart zu untersuchen. Das DJI werde sich schwerpunktmäßig der Zeit von 1945 bis 1990 widmen. Das Stadtjugendamt München sei für die Phase nach 1990 zuständig, seit das Kinder- und Jugendhilfegesetz gelte.

Mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung übernehme die Stadt eine deutschlandweite Vorreiterrolle, erklärte Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD) laut Pressemitteilung. Zugleich habe München mit Anerkennungsleistungen in Höhe von 35 Millionen Euro, die der Stadtrat im August 2024 bewilligte, ein deutliches Zeichen gesetzt. Die ersten Anträge mit einer Summe von insgesamt 930.000 Euro seien bereits ausgezahlt. Dieser Verantwortung sollten sich laut Dietl auch Bund und Länder stellen.

Die DJI-Direktorin Sabine Walper erklärte: “Wir wollen herausfinden, welche Gewalttaten in der Vergangenheit geschehen sind und was diese Taten ermöglicht hat. Je genauer wir die Risiken für sexualisierte Gewalt und Missbrauch verstehen, umso besser können wir diese Risiken für Kinder und Jugendliche in Zukunft verringern.” Münchens Sozialreferentin Dorothee Schiwy ergänzte, Kinderschutz sei Staatsaufgabe und dürfe nicht an den Grenzen der Landeshauptstadt Halt machen.

Laut Mitteilung werden die DJI-Forschenden der Frage nachgehen, welche Formen an physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt die Betroffenen erlebt haben. Dazu führten sie Interviews und analysierten Akten aus städtischen Heimen. Die Untersuchung betreffe auch die Organisationen, die solche Missstände möglicht hätten. Auch gelte es zu eruieren, ob es unter den Täterinnen und Tätern Netzwerke gegeben habe. Besondere Aufmerksamkeit richteten die Forschenden auf politische, legislative und gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen.

Der Sprecher der Betroffenen-Initiative Eckiger Tisch, Matthias Katsch, nannte das Vorgehen der Stadt München “beispielhaft – auch wenn es spät kommt – für manche Betroffenen sogar zu spät”. Denn die meisten Opfer der Heimerziehung in Deutschland seien bereits im Rentenalter. Begrüßenswert sei, dass ein Perspektivwechsel von der Betrachtung einzelner Einrichtungen hin zum Auftraggeber vollzogen werde. Aber die anhaltende Verantwortung der Träger von Einrichtungen, oft Ordensgemeinschaften und andere kirchliche Institutionen, sei zu berücksichtigen.

Eine Entschuldigung von Staat und Kirche bei den Opfern sei genauso überfällig wie eine wirksame Unterstützung, so Katsch. Viele Insassen der Heime hätten als Jugendliche in Betrieben und in der Landwirtschaft hart arbeiten müssen, ohne dass dafür Beiträge abgeführt worden seien. Sie seien ausgebeutet und um ihre Zukunftschancen betrogen worden.