Beschimpft, getreten, ausgegrenzt: An vielen Schulen gibt es zwar inzwischen einen offeneren Umgang mit Mobbing und auch Gegenmaßnahmen. Aber Fachleute sehen noch Nachholbedarf.
“Ich war schon als Kind groß und dick, trug eine Brille”, erzählt Marek Fink. Grund genug für zwei andere Jungen, ihn zu beschimpfen; Grund genug für die anderen Kinder, ihn auszulachen. “Erst habe ich gehofft, dass es besser wird, wenn ich es ignoriere”, sagt er. “Dann habe ich versucht, die beiden zu konfrontieren.” Doch statt besser wurde es schlimmer: Er wurde getreten, geschlagen, geschubst, seine Brille kaputt gemacht. Marek Fink ging jahrelang voller Angst zur Schule, fühlte sich allein gegen den Rest der Klasse.
Heute spricht der junge Mann mit den schwarzen Locken und dem herzlichen Lächeln gelassen von dieser Zeit. Man merkt, dass er die Geschichte nicht zum ersten Mal erzählt – denn Fink hat 2017 den Verein “Zeichen gegen Mobbing” gegründet. Sozialarbeiter und ehemalige Betroffene gehen gemeinsam an Schulen, tauschen sich mit den Klassen über Erfahrungen aus und geben Workshops.
Fachleuten zufolge sind bis zu zwei Millionen Schülerinnen und Schülern von Mobbing betroffen, Tendenz steigend. In einer Befragung im Auftrag der Techniker Krankenkasse gab jedes sechste Schulkind an, schon einmal gemobbt worden zu sein – und jedes zehnte, selbst bereits andere gemobbt zu haben. Nach Angaben des Bündnisses Cybermobbing nimmt das Mobbing im Netz stetig zu. Fink beobachtet zudem, dass es in immer mehr Fällen nicht bei Beleidigungen bleibt; körperliche Übergriffe nähmen zu.
Der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Kaess erklärt bei einer Veranstaltung der Zeitschrift “Psychologie Heute”, dass man Cybermobbing nicht von analogen Hänseleien trennen könne: “Junge Menschen leben im virtuellen Raum genauso wie in der Schule oder zu Hause.” Er rät Eltern, Interesse daran zu zeigen, was das Kind am Smartphone mache und zu Anteil nehmen, wenn es sich verletzt oder verunsichert zeige.
Denn die Folgen von Mobbing können gravierend sein, bis hin zu Angststörungen und Depressionen. Mobbing sei der wichtigste Faktor für Suizide und Suizidversuche im Jugendalter, warnt Kaess. Die häufigsten Alarmzeichen, dass ein Kind betroffen sein könnte, seien Rückzug, Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit oder auch Angst vor dem Schulbesuch. Und: “Die meisten suizidalen Menschen äußern ihre Absicht in irgendeiner Form. Dann mit einem Spruch wie ‘Kopf hoch’ zu reagieren, kann gefährlich werden.”
Ebenso sind Mutmaßungen, dass Betroffene das Mobbing herausgefordert haben könnten, nach Worten von Fink fatal. Sie könnten dazu führen, dass diese sich niemandem mehr anvertrauten. Zudem könne Mobbing jede und jeden treffen: “Es geht nicht nur um äußerliche Auffälligkeiten. Auch etwas positiv Gedeutetes wie ein besonderes Talent kann zum Anlass für Mobbing werden – oder die Trennung der Eltern.” Auch die Vorstellungen von Tätern seien oft klischeehaft, ergänzt Kaess. Wirklich antisozial seien die wenigsten; Mobbing sei vielmehr ein “soziales Gruppen-Phänomen”.
Das heißt: Meist gibt es neben Tätern und Opfern auch diejenigen, die zusehen, Mitläuferinnen und Mitläufer, manche, die die Täter anfeuern, vielleicht andere, die den Betroffenen beistehen. “Die Gruppe kann es nicht selbst regulieren”, erklärt der Mediziner. “Wenn sie es könnte, gäbe es das Mobbing nicht.” Deshalb seien Konzepte an Schulen so wichtig, um das Problem innerhalb der betroffenen Klasse zu lösen. Drastische Strafen für die Haupt-Mobber könnten die Dynamik dagegen eher noch verstärken.
Präventionsangebote, auch das zeigen Studien, sind wirksam – und sollten nach Worten der beiden Experten möglichst früh ansetzen. Es gebe zu wenige Programme an Grundschulen, kritisiert Kaess. Dabei machten Kinder schon an Kitas etwa die Erfahrung, dass andere sie nicht mitspielen ließen. “Das ist noch keine systematische Ausgrenzung. Aber man kann solche Entwicklungen laufen lassen – oder aber gegensteuern und sagen: Bei uns darf jeder mitspielen.”
Zu schwereren Fällen komme es erst ab einem Alter von ungefähr sechs Jahren; ein besonders heikler Punkt sei der Übergang an die weiterführende Schule. “Wenn sich die Klassengemeinschaft neu findet, kann man die Dynamik von Anfang an positiv gestalten”, rät Kaess: “Schauen, dass niemand isoliert wird, dass die verschiedenen Gruppen miteinander arbeiten können, dass alle akzeptiert werden.”
Um eine Gruppendynamik zu durchschauen, brauche es aus pädagogischer Sicht eine Viertelstunde, sagt Fink. Er sieht die Lehrkräfte in einer Schlüsselrolle: Wenn es etwa hohen Druck zu Konformität gebe oder unklare Regeln, begünstige dies Quälereien.
Der Anti-Mobbing-Berater selbst steht inzwischen mit den früheren Haupt-Peinigern im Austausch: Beide hätten ihn nach seiner Vereinsgründung angesprochen. Als Kind verbesserte sich seine Lage, als er – wenn auch aus anderen Gründen – auf eine andere Schule kam. Beim Turnen an den Ringen hatte der Junge sein erstes Erfolgserlebnis: “Der Klassenclown hat mir im entscheidenden Moment einen kleinen Schubs gegeben, damit ich den Umschwung schaffe.” Bei dieser Erinnerung lächelt Marek Fink.