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“Mit oder ohne Arme” – Wie David Dietz immer neue Grenzen verschiebt

David Dietz lebt mit einer sogenannten Dysmelie von Armen und Beinen – doch er lässt sich davon nicht bremsen. Der 44-Jährige Geschäftsführer spricht über Hürden, Vorurteile und seinen wichtigsten Job: Vater zu sein.

“Ich habe das große Glück, morgens fast immer gut gelaunt aufzuwachen. Das ist ein Geschenk”, sagt David Dietz. Der 44-Jährige ist Geschäftsführer der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz, zudem Kommunalpolitiker,Beisitzer im Bundesvorstand der FDP, zweifacher Vater sowie Freizeitsportler – und all das trotz Dysmelie: angeborener Fehlbildung der Gliedmaßen. Bei Dietz sind sowohl Arme als auch Beine betroffen. Zum Gehen trägt er Prothesen, auf Armprothesen verzichtet er: “Die fühlten sich wie ein Fremdkörper an.”

Das Wort “trotz” mag er eigentlich nicht: “Trotz seiner Behinderung hat er es weit gebracht” – Sätze wie diesen hört er oft. “Ich definiere mich nicht über meine Behinderung”, betont er. “Dafür gibt es zu viele Dinge in meinem Leben, die nichts damit zu tun haben.”

Die Ursache seiner Fehlbildungen liege in einem Holzschutzmittel, mit dem seine Mutter während der Schwangerschaft in Kontakt kam, vermutet er: Denn in der Westerwälder Siedlung, in der die Familie in den 1980er-Jahren lebte, häuften sich wohl Fehlbildungen und Fehlgeburten. Eine Klage kam für die Familie allerdings nicht infrage. “Meine Eltern haben ihre Energie lieber darauf verwendet, mich bestmöglich auf das Leben vorzubereiten.”

Die Grundschulzeit verbrachte Dietz in einer Einrichtung für Kinder mit Behinderung. Das Schreiben brachte er sich selbst bei, indem er einen Stift hinter das Armband seiner Uhr klemmte. Später wechselte er aufs Gymnasium – obwohl ihm davon abgeraten wurde. Zu groß waren die Bedenken, er könne nicht mithalten. Ein Beispiel: das Öffnen der Klassenzimmertüren mit Drehknauf. Ohne Arme und Hände eine schwierige, aber lösbare Aufgabe, erinnert er sich.

Dietz widersetzte sich allen Bedenken und schaffte es bis zum Abitur. “Ich war damals nicht gerade der fleißigste Schüler”, sagt er. Das habe jedoch nicht an seiner Behinderung gelegen, sondern am Alter: “Ich hatte viele andere Interessen zu dieser Zeit – wie Mädels und Fußball.” Er fühlte sich in seiner Klasse und bei Freunden integriert, spielte Fußball und Basketball. “Bei den Raufereien auf dem Schulhof habe ich immer ordentlich mitgemischt – Jungs eben”, gibt er zu.

Diskriminierung erlebte er selten. “Ich war im Fußball- und Basketballteam, habe mich nie ausgeschlossen gefühlt.” Dennoch sei auch er an dem Schimpfwort “Behinderter” nicht vorbeigekommen. “Einmal meinte ein Gegenspieler nach einem wirklich üblen Foul von mir: ‘Boah, Dietz, Du Krüppel’ – entschuldigte sich jedoch ziemlich erschrocken sofort.”

Nach dem Abitur und dem Studium der Politikwissenschaft, Germanistik und des Öffentlichen Rechts machte Dietz Karriere, unter anderem in der Landtagsfraktion der FDP Rheinland-Pfalz. Nach Stationen im Gesundheitsministerium und in einem Gesundheitsunternehmen wurde er Geschäftsführer der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz.

Seine Behinderung sieht Dietz heute als Antrieb. Vor zwei Jahren erzählte er erstmals öffentlich seine Geschichte. “Auf keine politische Äußerung habe ich je so viele Reaktionen bekommen. Mein Wiedererkennungswert ist riesig – das hilft.”

Dennoch kennt auch er Momente der Verletzlichkeit. “Blicke können verunsichern. Und ja, manchmal nervt das Angestarrtwerden.” Besonders beim Kennenlernen seien viele Menschen überfordert. Das beginne schon bei der Begrüßung: Wie gibt man jemandem die Hand, der keine “richtige” hat?

“Ich gebe dann einfach meinen Arm in die Hand. So ist das Eis sofort gebrochen.” Dass er mit seiner offenen Art schnell Berührungsängste abbaut, merkt jeder, der Dietz begegnet. Während Selbstbewusstsein für ihn nie ein Problem war, sieht es mit dem Selbstwert anders aus. “Ich bin ehrgeizig, wollte immer alles schaffen: Sport, Studium, Beziehung. Aber ich musste lernen, dass es Grenzen gibt – und, dass man sie durch Einsatz verschieben kann.”

Diese Haltung will er nun an seine Kinder weitergeben. Der elfjährige Sohn besucht ein Sportinternat, die dreijährige Tochter lebt abwechselnd bei ihm und seiner Ex-Partnerin. “Wenn die Kleinen Unterstützung brauchen, ist es egal, wie lang Papas Arme sind”, sagt er. Auch beim Wickeln fand er seinen Weg: “Man muss kreativ sein”.

Das gilt auch in der Küche. “Bei uns gibt es häufig ‘nackte Nudeln’, wie meine Tochter sie gern nennt. Manchmal auch mit Spinat”, sagt er und lacht. “Am Ende habe ich einen Job, den ich nicht verbocken darf: ein guter Vater zu sein. Mit oder ohne Arme.”