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Mit Erotik ins neue Kirchenjahr?

Liebesklänge und Frühlingsbilder statt Leid, Not und Schmerz

Gottesdienste sind „Klangräume“, in denen verschiedene Texte und Melodien zusammenklingen. Wechselnde Wochensprüche, Psalmen, Lesungen, Predigttexte und Lieder prägen die individuelle Klangfarbe jedes Sonn- und Feiertags im Kirchenjahr. Seit eine Arbeitsgruppe neue Vorschläge für Lesungen und Predigttexte vorgelegt hat, mischen sich in vertraute Klänge auch bislang nicht gehörte Töne. Die vielleicht gewagteste solcher Klangverschiebungen geschieht am 2. Advent.
Die gottesdienstlichen Lesungen am 2. Advent thematisieren Leid, Not und Schmerz, aber auch die Hoffnung, dass Gottes Kommen allem Trübsal und Unrecht ein Ende machen wird. Trotz des Erlösungsgedankens, der hier anklingt, hat dieser Sonntag liturgisch seit jeher eine eher düstere Klangfarbe: Das Evangelium des Sonntags (Lukas 21,25-33) spricht von bedrohlichen endzeitlichen Katastrophen. In der alttestamentlichen Lesung (Jesaja 63,15-19 und 64,1-3) ruft das Volk in Gottverlassenheit nach Gottes Kommen und Eingreifen: „Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen“. Die Epistel schließlich mahnt zu geduldigem Ausharren, weil das Kommen des Herrn bevorsteht (Jakobus 5,7-8).
Ein weiterer Predigttext, der den dunklen Charakter der hier zusammenklingenden Texte bislang noch unterstrich, ist Matthäus 24,1-14. Von Wehen ist da die Rede, von Kriegen und Kriegsgeschrei, von Hungersnöten, Erdbeben und Bedrängnis. Der Anfang vom Ende.
In ihrem Revisionsvorschlag hat nun die für die Überarbeitung der Perikopenordnung zuständige Arbeitsgruppe entschieden, diese bedrohlichen Klänge durch ein Liebeslied zu ersetzen: Hohelied 2,8-13. Mit erotischen Zwischentönen singt es von der Vorfreude auf den Geliebten und seinen Lockrufen: „Auf, du meine Liebste, meine Schöne, und komm du“. Liebesverlangen, drängende Erwartung und sehnsüchtiges Begehren, als Gegenton in der Bußzeit!
Und nicht nur die Liebesklänge sind ungewöhnlich, auch die Frühlingsbilder, die der Text in den Gottesdienst einspielt: Der Lenz ist da, die Vögel singen, die Pflanzen blühen. Passt das zum nasskalten Winterwetter im Dezember? Und überhaupt: Eignen sich die zarten, fordernden Töne für eine Predigt kurz vor Weihnachten?
Westfalens Pfarrerschaft ist gespalten. „Gerade!“, sagen die Einen und fühlen sich inspiriert zu einer frischen und phantasievollen Adventspredigt. „Auf keinen Fall!“, protestieren die Anderen. Sie empfinden die neuen Töne als Missklang im Advent und würden das Liebeslied lieber in die Nähe des Valentinstags rücken. Die Klangverschiebung provoziert. Pro- und Contra-Stimmen halten sich die Waage.
Man darf gespannt sein, wie die Arbeitsgruppe damit umgeht, ob also  künftig zu Beginn des Kirchenjahres inmitten bedrohlicher Endzeitmotive auch verlockende Liebestöne zu hören sein werden.

Carsten Haeske ist Leiter des Fachbereichs Gottesdienst und Kirchenmusik im Institut für Aus-, Fort- und Weiterbildung (IAFW) in Schwerte-Villigst.