Geduldig lächelt die 92-jährige Charlotte Knobloch, in einem weißen Sessel sitzend und im roten Kostüm, von der Klassenzimmer-Wand herab – und wartet auf eine Frage. „Was ist Antisemitismus?“, tippt ein Mädchen in ihren Laptop. „Reiner Judenhass“, beginnt Charlotte Knobloch zu sprechen. Ein Junge steht mit VR-Brille nebendran und murmelt immer wieder „Krass, Alter!“ vor sich hin. Der Geschichtskurs der zwölften Klasse im städtischen St.-Anna-Gymnasium in München hat es in dieser Schulstunde mit einer virtuellen Charlotte Knobloch zu tun. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern teilt als Avatar ihre Erinnerungen an die Reichspogromnacht 1938, die sie als kleines Mädchen erlebt hat, führt die Schülerinnen und Schüler durchs damalige München und erzählt, wie sie – als uneheliches Kind einer katholischen Frau in Franken getarnt – die NS-Zeit überlebt hat.
Wer Charlotte Knobloch überhaupt ist, wissen hier im Geschichtskurs nicht alle. Die jungen Leute sind gerade mal 16 oder 17 Jahre alt. „Ist sehr interessant und sehr gut gemacht“, sagt Medi zu dem Virtual-Reality-Projekt mit dem Titel „Inside Pogromnacht“, das seit Ende Oktober online ist. Vieles wisse er schon vom Geschichtsunterricht, aber ein „Rundgang“ mit VR-Brille sei schon nochmal etwas anderes. Dem stimmt auch Olivier zu. Charlotte Knobloch habe er bisher nicht gekannt. Für ihn habe es sich aber angefühlt, als spreche da ein echter Mensch zu ihm. Es sei das erste Mal, dass er direkt mit einem NS-Zeitzeugen zu tun habe – wenn auch nur in virtueller Form. Aber selbst das mache auf ihn viel mehr Eindruck, als wenn nur ein Lehrer von der NS-Zeit erzähle, sagt Olivier.
Die Tatsache, dass es in naher Zukunft keine NS-Zeitzeugen mehr gibt, war einer der Gründe, warum die Claims Conference (New York), die seit 1951 die Interessen von jüdischen Opfern des Nationalsozialismus vertritt, das Projekt „Inside Pogromnacht“ überhaupt ins Leben gerufen hat. Dazu komme das abnehmende Wissen über die NS-Zeit und der steigende Antisemitismus weltweit, erzählt der europäische Claims-Conference-Vertreter Rüdiger Mahlo bei der Präsentation in München. Die Begegnung mit virtuellen Zeitzeugen, wie etwa Charlotte Knobloch, sehe er als eine „emotionalisierte Form“, künftige Generationen an das Thema heranzuführen. Das St.-Anna-Gymnasium sei die erste Schule weltweit, die das Projekt testen dürfe. Er sei daher sehr gespannt, wie es bei den jungen Leuten ankomme, sagt er – und dreht sich wieder zu der Schülergruppe um, mit der er schon vorher ins Gespräch vertieft war.
Währenddessen spricht erneut die virtuelle Charlotte Knobloch. Sie erzählt von dem Moment, in dem sie während der Pogromnacht am 9. November 1938 die alte Ohel-Jakob-Synagoge in der Münchner Innenstadt gesehen hat, die die Nationalsozialisten in Brand gesteckt hatten. „Warum kommt denn nicht die Feuerwehr“, habe sie sich als kleines Mädchen damals gefragt. Sie habe damals auch nicht verstanden, was überhaupt Juden seien. Sie habe bis heute ein „ungutes Gefühl“, wenn sie das Wort „Jude“ höre, fühle sich immer noch ausgestoßen, erzählt sie. Überlebt habe sie die NS-Zeit nur, weil ihr Vater sie in die Obhut von Zenzi gegeben habe – der katholischen Haushälterin ihres Onkels, die inzwischen wieder auf einem Bauernhof in Mittelfranken lebte. Sie sei dort als ihr uneheliches Kind ausgegeben worden. Fortan habe sie sich Lotte Hummel nennen müssen.
Sie finden das Projekt „richtig cool“, weil es wie eine Zeitreise sei, sagen Anastasia und Pamina. Charlotte Knobloch kennen die beiden 17-jährigen Mädchen. Sie seien im vergangenen Jahr in der neuen Ohel-Jakob-Synage gewesen und hätten dort viel über Knoblochs Leben erfahren. Es sei wichtig, dass die NS-Zeit nicht in Vergessenheit gerate – vor allem nicht in der jungen Generation, in der schon manchmal in „respektloser Weise“ über die Opfer der NS-Zeit geredet werde, sagen die zwei. Sie finden es gut, „dass den Opfern ein Gesicht gegeben wird und man auf diese Weise nachfühlen kann, wie sie gelitten haben“. Natürlich sei es etwas anderes, nur mit einem virtuellen Zeitzeugen zu sprechen. Aber die meisten Menschen hätten nun mal keine Chance mehr, einen lebenden Zeitzeugen zu treffen, sagen Anastasia und Pamina.
Das Projekt ist browserbasiert – entweder man klickt sich vor dem Bildschirm durch das München von 1938 oder man setzt eine VR-Brille auf. Zu sehen bekommt man dabei historische Videosequenzen, Erklärtexte, immer wieder spricht auch Charlotte Knobloch und führt durch die Straßen, an einen Kiosk, in ein Klassenzimmer oder einen Spielplatz, den sie als „Judenkind“ nicht mehr betreten durfte. Man kann sich aber auch face-to-face mit ihr unterhalten und ihr eine Frage stellen. Damit man darauf die passende Antwort bekommt, musste die echte Charlotte Knobloch mehrere Tage lang rund 1.000 Fragen auf Deutsch und auf Englisch beantworten. Die KI setzt dann aus diesem Pool die passende Antwort zusammen – und die virtuelle Charlotte Knobloch beginnt zu erzählen. (00/3238/07.11.2024)