In einem mehr als 60 Jahre zurückliegenden mutmaßlichen Fall von sexualisierter Gewalt in einem evangelischen Kinderheim bei Göttingen hat der Göttinger evangelische Superintendent Frank Uhlhorn weitere Aufarbeitung verlangt. Dies sei nötig, „weil so unendlich viel Leid geschehen ist“, sagte Uhlhorn dem „Göttinger Tageblatt“ (Donnerstag). Die Fälle von sexualisierter Gewalt sollen sich in den 1950er-Jahren im damaligen Evangelischen Kinderheim Obernjesa bei Göttingen ereignet haben. Zu den Beschuldigten gehört auch ein früherer Pastor.
Bei der Nachfolgeorganisation des Heims, dem Verein „Haus am Thie – Evangelische Jugendhilfe Obernjesa-Borna gGmbH“ (EJO), hatten sich 2012 erstmals zwei Betroffene gemeldet, die als Kinder in dem Heim untergebracht waren. Sie hätten „in berührenden persönlichen Gesprächen“ glaubhaft davon berichtet, dass sie während dieser Unterbringung „massivsten sexuellen Grenzverletzungen, körperlicher Gewalt und Herabsetzung durch erwachsene Bezugspersonen“ ausgesetzt worden seien, heißt es auf der EJO-Homepage.
Uhlhorn sagte, es sei wichtig, „so gut es geht aufzuklären, was damals gewesen ist, welch furchtbares Leid in unseren Räumen passiert ist“. Es gehe dabei nicht um ein juristisches Verfahren – die Beschuldigten sind bereits gestorben. „Es geht darum, das Leid erstmal wahrzunehmen, zu bestätigen, weil auch das zur Heilung beitragen kann.“ Uhlhorn mahnte dabei Offenheit an: „Jeder, der mit uns sprechen möchte zu diesem Thema, ist herzlich eingeladen.“ Anonymität und Vertraulichkeit müssten gewährleistet sein. Auch die Öffentlichkeit müsse informiert werden.
Die Vorfälle waren in der vergangenen Woche durch Recherchen des „Göttinger Tageblatts“ öffentlich bekannt geworden. Sie flossen zahlenmäßig auch in die ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche ein, die im Januar 2024 veröffentlicht wurde. Uhlhorn kritisierte, dass er als leitender Theologe in der Region von der Kirchenleitung in Hannover nicht früher über die Fälle informiert worden sei. Erst nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie habe er vom früheren Leiter der EJO davon erfahren. „Mir sind Tränen in die Augen geschossen.“ Es gehe hier um „sadistische Vergewaltigung“.
Eine Unabhängige Kommission der hannoverschen Landeskirche hatte die Berichte der Betroffenen 2013 als plausibel eingestuft und ihnen Anerkennungsleistungen für erlittenes Leid zugesprochen. Die gezahlten Leistungen lagen nach Angaben der Landeskirche in einer Höhe zwischen 5.000 und 50.000 Euro.