Vor dem Hintergrund des anhaltenden Nahost-Kriegs hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, mehrere Haftbefehle beantragt. Sie richten sich gegen drei Anführer der Hamas und gegen Mitglieder der israelischen Regierung, unter anderem Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Im Interview kritisiert Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, die beantragten Haftbefehle – und fordert Netanjahus Rücktritt.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Karim Khan, begründet den Antrag auf Haftbefehle im Falle der Hamas-Anführer mit den Morden, Entführungen und Vergewaltigungen seit dem 7. Oktober. Im Falle Israels führt er das Völkerrecht an, konkret die Schließung von drei Grenzübergängen, sodass keine Lebensmittel nach Gaza kamen. Können Sie diese Argumentation nachvollziehen?
Tatsächlich kann ich einzelne Punkte nachvollziehen, was zum Beispiel das militärische Vorgehen Israels angeht. Auch die Rhetorik der Führung Israels gegenüber der Bevölkerung im Gazastreifen war teilweise menschenverachtend. Und Grenzübergänge schließen und auf diese Weise Lebensmittellieferungen zu verhindern, das halte ich für falsch.
Doch mit den Anträgen auf Haftbefehle habe ich trotzdem ein großes Problem. So wird nämlich der demokratische Staat Israel auf eine Stufe gestellt mit der fundamentalistischen Terrororganisation Hamas. Das verkennt den grundlegenden Unterschied.
Wie hätte Chefankläger Khan denn sonst vorgehen sollen?
Da möchte ich keine Ratschläge geben, ich bin nicht sein Berater. Tatsache ist aber, dass die Anklagen immer nur ein Ausschnitt sind. Jeden Tag wird an vielen Orten dieser Welt das Völkerrecht gebrochen. Schauen Sie doch, was China mit den Uiguren macht. Und es ist noch gar nicht lange her, dass Aserbaidschan die Armenier aus Bergkarabach vertrieben hat. Es passiert also soviel Unrecht, dass immer nur eine Auswahl zur Anklage kommt. Auch vor diesem Hintergrund überzeugt es mich nicht, dass jetzt Israel vom Internationalen Strafgerichtshof an den Pranger gestellt werden soll.
Diese Gleichstellung von Israel und Hamas findet sich oft auch in der öffentlichen Debatte. Wie lässt sich das vermeiden?
Man kann natürlich Kritik an beiden Seiten üben. Es gibt tatsächlich auf beiden Seiten extreme Positionen. Seit dem 7. Oktober gibt es berechtige Kritik an der israelischen Militärführung, die nicht genug Rücksicht auf Zivilisten genommen und Lebensmittellieferungen nicht zugelassen hat.
Man muss sich aber immer wieder in Erinnerung rufen, wie wir an diesen Punkt gekommen sind. Die Hamas hat am 7. Oktober das größte Massaker an Juden seit dem Zweiten Weltkrieg begangen, und zwar völlig unprovoziert.
Es gibt in diesen Wochen viele Demonstrationen gegen die Regierung Netanjahus in Israel demonstrieren. Fordern auch Sie seinen Rücktritt?
Ja, unbedingt! Das habe ich aber auch schon vor dem 7. Oktober getan. Benjamin Netanjahu hat mit der Bildung seiner aktuellen Regierung eine Grenze überschritten. Sein wichtigster Koalitionspartner sind Rechtsextremisten. Er hat die Brandmauer, von der wir in Deutschland ja gern reden, eingerissen. Dann hat er angefangen, den demokratischen Staat auszuhöhlen, nach dem Vorbild von Leuten wie Orban in Ungarn, Erdogan in der Türkei oder auch Trump in den USA.
Auch nach dem 7. Oktober hat Netanjahu ist die Kriegsführung Netanyahu kritikwürdig. Der Krieg ist jetzt im achten Monat, ein Ende ist nicht abzusehen. Ich kann kein klares strategisches Ziel erkennen. Eine wichtige Frage hat Netanjahu noch gar nicht beantwortet: Wer soll eigentlich nach der Hamas das Sagen haben im Gazastreifen? Das können nur gemäßigte Palästinenser sein, doch momentan herrscht ein Vakuum. Da drängt sich der Verdacht auf: Das eigentliche Ziel des Kriegs ist ein ganz anderes, nämlich der Machterhalt Netanjahus. Denn solange der Krieg andauert, kann Netanyahu an die Macht festhalten.
Wie kann jetzt ein Weg zum Frieden aussehen?
Aus eigener Kraft werden es Israel und die Palästinenser nicht schaffen, allein werden sie nie eine Lösung finden. Die internationale Gemeinschaft wird eine wichtige Rolle einnehmen müssen, dann kann man den Frieden erreichen. Die gemäßigten arabischen Staaten, etwa Ägypten und Katar, müssen auf die Palästinenser einwirken. Was mir Hoffnung macht: Beim Angriff Irans auf Israel haben sich einige arabische Staaten auf die Seite Israels gestellt. Das war vor 20 Jahren noch undenkbar. Auf Israel müssen natürlich vor allem die USA einwirken.
Dann braucht es für beide Seiten eine Perspektive. Das kann für die Palästinenser nur heißen: Sie brauchen eine Aussicht auf einen Staat in den Grenzen von 1967. Und Israel braucht die Aussicht, ein akzeptiertes Mitglieder der Region zu werden.
Wenn man sich das Leid und den Hass in der Region anschaut, fällt es schwer, an den Frieden zu glauben.
Denken Sie mal zurück an das Jahr 1945! Damals waren Deutschland und Frankreich verfeindet. Die Feindschaft ging über mehrere Jahrhunderte, noch viel länger als der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern dauert.
Und doch war der deutsch-französische Konflikt schnell beigelegt, nur eine Generation später gab es an den Grenzen keine Soldaten mehr. Das zeigt: Die richtige politische Rahmenbedingungen und mutige Führung kann auch historische Feindschaften überwinden.