Er ist stets auf der Suche nach neuen Tönen. Schabende Geräusche, heftiges Kratzen oder das Schwingen eines Geigenbogens in der Luft – Tabus scheint es nicht zu geben. Sein „musikalischer Bungalow“ müsse permanent zerstört und wieder aufgebaut werden, sagte der Komponist Helmut Lachenmann in einem Interview. Dafür geht der Avantgardist mit enormer Fantasie immer wieder abseitige Wege.
Schon seit den 1960er Jahren prägt Lachenmann die Neue Musik. Am 27. November wird er 90 Jahre alt. Rund um den Geburtstag gibt es ihm zu Ehren Konzerte, unter anderem in seiner Heimatstadt Stuttgart, in Hamburg und Frankfurt am Main.
Die Irritation gehört für Lachenmann zum Musikerlebnis dazu. „Anfangen zu hören“ – das ist sein erklärtes Ziel. Selbst die musikalische Pause ist bei ihm Klang: „In der Stille fangen Sie an zu hören“, sagt Lachenmann in einem Podcast des Musikverlages Breitkopf & Härtel: „Hören heißt, die Antennen stellen auf das, was passiert.“ Und das heißt bei ihm: eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Geräusche, die beim Zuhören Bilder und Assoziationen auslösen.
Lachenmann wurde 1935 in Stuttgart als sechstes von acht Kindern geboren. Schon früh begann der Sohn einer evangelischen Pfarrersfamilie mit Klängen zu experimentieren. Er studierte Komposition in Stuttgart und später bei Luigi Nono (1924-1990) in Venedig. Von den Interpretinnen und Interpreten seiner Werke verlangt er, über ihren Horizont hinauszusehen.
Das weiß auch der Dirigent Sylvain Cambreling, der seit vielen Jahren mit dem Komponisten zusammenarbeitet. „Man muss Lachenmanns Vokabular lernen, erst danach kann man anfangen zu spielen“, sagt Cambreling dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Chefdirigent der Symphoniker Hamburg hat Werke des Komponisten auch uraufgeführt.
Lachenmann sei ein Poet mit viel Humor. Cambreling weiß: „Extrem wichtig ist seine Genauigkeit und Präzision, jedes Signal will aufgenommen und umgesetzt werden.“ Lachenmann sei es wichtig „zu spüren, dass man seine Worte in der Komposition verstanden hat“. Das gelte nicht nur Cambreling als Dirigenten: „Er möchte, dass auch jeder Musiker und jede Musikerin weiß, worum es eigentlich geht.“ Bei seinen Arbeiten seien viele Proben notwendig.
Unter Leitung von Cambreling ehrt das Ensemble Modern am 29. November in der Hamburger Elbphilharmonie den Komponisten. Aufgeführt wird Lachenmanns „Concertini“ für 27 solistisch agierende Musiker und Musikerinnen, die mit tonlosem Atem, Schab- und Scharrgeräuschen die Bühne in ein Kaleidoskop ungewöhnlicher Klänge verwandeln werden.
Seit Jahrzehnten sprengt Lachenmann mit seiner „Musique concrète instrumentale“ die Grenzen des Hörbaren. Kritik und künstlerisches Risiko scheute der Komponist nie: „Man muss gefährlich leben“, sagt er im Interview mit dem Musikmagazin „Concerti“ vor einigen Wochen.
Lachenmann hat als Komponist ähnlich wie Karlheinz Stockhausen (1928 – 2007) oder John Cage (1912-1992) viel Widerstand erfahren – von Medien, dem Publikum, von Musikerinnen und Musikern. Wegen Protests wurden auch mal Stücke bei der Aufführung abgebrochen und wieder neu angefangen. Dies alles habe sein Wirken spannend gemacht, sagt er lapidar.
Sein Bühnenwerk „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ nach dem Märchen von Hans Christian Andersen wurde 1997 an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt. Das Interesse des Publikums war riesig. Einige Kritiker hielten das Werk für „Ramsch“. Doch es eroberte Bühnen weltweit. Heute gilt es als die dritte radikal moderne deutsche Oper nach 1945, in einer Reihe mit B.A. Zimmermanns „Die Soldaten“ (1965) und Aribert Reimanns „Lear“ (1978).
Für Lachenmann-Werke Notenmaterial herzustellen, auch das ist eine Herausforderung. Für manches erfindet der Komponist eigene Namen, etwa einen „feierlichen Scheibenwischer“, was für eine langsame Bewegung des Geigenbogens steht. Ein „psychologisches Fortissimo“ dagegen ist, wenn etwa ein Trompeter tonlos spielt, aber bei ihm trotzdem Intensität und Anstrengung zu erleben sind.
„Ich möchte beim Komponieren immer dorthin geraten, wo ich noch nicht war“, ist Lachenmann vielfach zitiert worden. Es sei ihm „immer um die Energie, die in den Klängen steckt“ gegangen, erklärt er im „Concerti“-Interview. Es müsse gelernt werden, „die Gewohnheit zu verweigern“.
Lachenmann wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ernst-von Siemens-Musikpreis. Der mehrfache Vater, der inzwischen hauptsächlich in Italien lebt, ist mit der Pianistin Yukiko Sugawara verheiratet. Er merke, dass er „etwas müde werde“, sagte Lachenmann in dem Interview kurz vor seinem 90. Geburtstag. Trotzdem gebe es „immer wieder neue Dinge zu tun, so wie die Gesellschaft sich auch ständig ändert. Und wenn es irgendwann nicht mehr geht, höre ich halt auf.“