Gedacht war die Zeitumstellung einmal als Energiesparmaßnahme: Durch die längere Helligkeit an den Sommerabenden sollte weniger Strom verbraucht werden. Dieser Effekt hat sich nicht eingestellt. Welchen Sinn kann man den Zeitsprüngen dennoch beimessen?
Am Abend des 30. Oktobers wird es wieder so weit sein. Ich werde durch alle Räume unserer Wohnung gehen und staunen, wieviel Uhren bei uns an den Wänden hängen oder als Wecker herumstehen. Werde akribisch darauf achten, dass ich kein Exemplar übersehe, damit ich am nächsten Morgen nicht völlig aus dem Takt gerate. Ich werde wieder hoffen, dass die funkgesteuerten Zeitmesser sich wirklich ganz selbsttätig umstellen werden. Und bei den älteren Exemplaren werde ich wieder überlegen, ob ich die Zeiger eine Stunde vor- oder zurückstellen muss.
Es soll ja eine Eselsbrücke geben, nach der sich dies ganz leicht merken lässt – nur dass diese mir meist nicht einfällt, wenn ich sie brauche.
Zeitwechsel – eine Idee der Philosophen?
Seit Jahrzehnten geht das nun so, zweimal im Jahr. Eigentlich ist es eine unsinnige Angelegenheit, denn der Energiespareffekt hat sich nicht eingestellt. Seit etlichen Jahren soll darum dieser Zeitwechsel abgeschafft werden. Aber wie das so ist: Die einen, die mit dem Spruch vom frühen Vogel, der den Wurm fängt, wollen die Sommerzeit aufs ganze Jahr ausdehnen, die anderen lieber zur dauerhaften Normalzeit, die jetzt unsere Winterzeit ist, zurückkehren. Und so wird die Entscheidung Jahr um Jahr hinausgeschoben. Tröstlich ist da nur der Gedanke, dass es Millionen Mitmenschen ebenso trifft.
Aber vielleicht waren die Erfinder dieser zweimaligen Zeitumstellung im Jahr gar keine Technokraten, sondern Philosophen. Vielleicht wollten sie ja, dass wir nicht nur an Geburtstagen oder am Jahreswechsel darüber nachdenken, was das eigentlich ist: die Zeit. Vielleicht wollten sie uns zweimal im Jahr darauf stoßen, dass das, was als physikalische Größe mit dem Kürzel t so gleichmäßig und unerbittlich aus dem Jetzt Vergangenheit macht und aus der Zukunft Gegenwart, doch irgendwie auch eine höchst subjektive Seite hat.
Nicht nur, dass manche Stunden sich dehnen können wie Kaugummi oder dann andere vorüberfliegen wie die Landschaft vor dem ICE-Fenster. Nicht nur, dass im Empfinden der meisten Menschen mit steigendem Alter die Tage und Jahre immer schneller vergehen. Mit der Zeitumstellung, die ja einen menschengemachten Sprung in den doch eigentlich linearen Verlauf hineinbricht, siegt, jedenfalls im persönlichen Erleben, eine simple Verabredung in Parlamenten über eherne Naturgesetze.
Zwar hatte schon der griechische Philosoph Heraklit festgestellt: Du kannst nicht zweimal in den selben Fluss steigen – was dann später zur griffigen Formel Panta rhei, alles fließt, wurde. Doch bei der Zeitumstellung tun wir so, als könnten wir einmal im Jahr wenigstens eine Stunde auf dem Strom der Zeit zurückrudern.
Aber: Vergangenes ist vergangen. Und die Gegenwart lässt sich nicht festhalten. Besonders nach Momenten voller Glück macht diese Erfahrung melancholisch. Es war schon als Kind für mich schwer zu akzeptieren, dass Geburtstags- und andere Feste ein Ende haben und in der Vergangenheit verschwinden.
Einmal ließ Gott für Josua die Zeit stillstehen
Ich schöpfte Hoffnung, dass sich dagegen etwas unternehmen ließe, als ich in der Christenlehre die höchst martialische und darum in dem Alter sehr unterhaltsame Geschichte von Josua hörte: Der hatte nach dem siegreichen Überfall auf Jericho und Gibeon die Amoriter gegen sich aufgebracht. Israels Kampftruppe konnte die Gegner vollständig niedermetzeln, weil Josua nach einem Gebet die Sonne stillstehen ließ und damit auch die Zeit. Doch auch diese biblische Geschichte endete für mich deprimierend. Denn dort heißt es in Josua 10, 14: „Weder vorher noch nachher hat der Herr jemals auf das Gebet eines Menschen hin so etwas getan.“
Auch die Jünger Jesu müssen wieder herunterklettern vom Berg Tabor, auf dem sie doch eben noch dem Himmel ganz nah gewesen waren. „Hier lasst uns Hütten bauen“ hatten sie beschlossen, enthoben von Alltag und Mühe und dem Vorgeschmack ewigen Lebens auf der Zunge. Doch Jesus, gerade noch umhüllt vom Geist Gottes, befiehlt barsch den Abstieg in die Niederungen des Lebens. Es ist, als ob er sich selbst gegen die teuflische Versuchung wehren muss, hier schon seinen irdischen Weg zu beenden, ohne seine Passion, seine Aufgabe erfüllt zu haben.
Als Schüler der zehnten Klasse hatte ich einen Aufsatz zu schreiben zur Frage: Was meint Goethe, wenn er Faust sagen lässt: „Verweile doch, du bist so schön“? Schwierig, eine Antwort zu finden, denn dieses Du war ein Augenblick. Gleich zu Beginn des Dramas Erstem Teil hatte Faust einen Pakt mit Mephisto geschlossen: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn!“ Und genau dazu lässt Faust sich hinreißen, als er am Ende des Zweiten Teils in einer Vision sieht, wie Menschen einen Sumpf trockenlegen, um dort „tätig frei zu wohnen“.
Bleibt also bei allem Sinnieren über die Zeit die Frage: Welche Augenblicke, Sekunden, Stunden machen mein Leben lebenswert? Und: Was erwarte ich von der Zukunft, die auf mich zukommt? Dazu gehört auch das Wissen darum, das Jesus in seiner Bergpredigt so auf den Punkt bringt: „Wer ist aber unter euch, der seinem Leben eine Elle zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?“ (Matthäus 6,27).
Sinnig und tröstlich finde ich an der Zeitumstellung, dass wir im Frühling, wenn die Tage lang werden, die Nächte kurz und das große Blühen beginnt, eine Stunde ansparen – um sie nun, wenn es in den grauen, melancholischen November mit seinen Trauertagen geht, wieder vom Lebenskonto abzuheben.
Ich muss sie nicht unbedingt vergrübeln, sondern darf sie ruhig auch verschlafen. Denn es gilt so oder so: „Meine Zeit steht in deinen Händen, Gott“ (Psalm 31,16). Zwar steht am Ende des Novembers der „Tag der Entschlafenen“, wo mein irdisches Ende in den Blick kommt. Doch als „Ewigkeitssonntag“ öffnet er ein Fenster in eine neue Welt, in der sich der Fluss der Zeit, um im Bild zu bleiben, in den großen Ozean der Ewigkeit ergossen hat. Uhren jedenfalls werden dort nicht mehr gebraucht.