Artikel teilen:

Mehr Menschen töten sich selbst – Nachfragen können Leben retten

Zuletzt sind die Suizidzahlen gestiegen: Mehr als 61.000 Menschen haben im Jahr 2023 jemand Nahestehenden durch Selbsttötung verloren. Fachleute sehen Möglichkeiten zum Gegensteuern – auch für jede und jeden Einzelnen.

Wirklich vorhersagen lässt sich ein Suizid laut Fachleuten kaum – weder mit klinischer Beobachtung noch über Risikofaktoren, zu denen beispielsweise frühere Suizidversuche oder Selbstverletzung zählen. Gerade deshalb halten sie vorbeugende Angebote für entscheidend, sowohl auf politischer als auch gesellschaftlicher Ebene.

Das gelte besonders angesichts steigender Suizidzahlen: 2023 starben in Deutschland 10.304 Menschen durch Selbsttötung, wie das Nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro) und die Deutsche Akademie für Suizidprävention (DASP) mitteilten. Das bedeutet, dass sich alle 51 Minuten ein Mensch selbst das Leben nahm. Zum zweiten Mal in Folge sind diese Zahlen leicht gestiegen.

Barbara Schneider, Mitglied der geschäftsführenden Leitung des NaSPro, forderte eine bessere und umfassende Datenerhebung, um frühzeitig auf Entwicklungen reagieren zu können. Reinhard Lindner vom NaSPro betonte, dass der Erhalt und Ausbau suizidpräventiver Angebote dringend sichergestellt werden müssten. Der Geschäftsführer der Deutschen Akademie für Suizidprävention, Georg Fiedler, pochte auf gesetzliche Regelungen und die Einrichtung eines qualifizierten nationalen Hilfetelefons. Schon lange wird zudem gefordert, etwa den Zugang zu Bahngleisen oder hohen Gebäuden besser zu kontrollieren.

Darüber hinaus könnten auch Einzelne viel bewegen. So sollten etwa Pflegekräfte und Lehrkräfte lernen, suizidale Absichten zu erkennen und damit umzugehen: Dafür wirbt der Geschäftsführer der Akademie des Versicherers im Raum der Kirchen, Georg Hofmeister. “Wenn wir gezielt Menschen in Schlüsselpositionen befähigen, im alltäglichen Umgang mit betroffenen Menschen aktiv Unterstützung zu organisieren, können wir die Zahl der Suizide reduzieren”, sagt er. Oft seien Suizidgedanken “ein Schrei nach Hilfe in gefühlter Ausweglosigkeit”. Betroffene bräuchten Menschen, “die hinschauen, zu hören und weiterführende Hilfe anbieten”.

Auch der Psychiater Andreas Menke spricht sich dafür aus, schon an Schulen über psychische Gesundheit aufzuklären. Viele glaubten, dass Menschen, die ihre Suizidgedanken äußern, nur Aufmerksamkeit wollten. “Tatsächlich kündigen mehr als 75 Prozent ihr Vorhaben an. Nur leider nehmen dies die wenigsten ernst.”

Ein weiteres Problem ist laut Menke, dass die meisten Mittel für einen Suizid unauffällig zu beschaffen sind: Wenn jemand etwa im Baumarkt entsprechende Einkäufe tätige, falle das niemandem auf. “Also: auf jeden Fall ansprechen und Hilfe suchen”, rät er – und warnt zugleich vor Missverständnissen. Sprüche wie “du hast doch alles” oder “reiß dich zusammen” verstärkten das Leid für Betroffene zusätzlich, seien aber immer noch zu hören.

Tatsächlich könne man sich Suizidalität als Spektrum vorstellen, erklärt der Ärztliche Direktor und Chefarzt an der psychosomatischen Klinik Medical Park Chiemseeblick. Lebensüberdruss, der Verlust von Freude und der Wunsch nach Ruhe stünden häufig am Anfang. Gefährlich werde es, wenn aus den düsteren Gedanken der Wunsch werde, zu sterben – und wenn dessen Erfüllung gar geplant und vorbereitet werde.

Auf dem “Spektrum der Suizidalität” könnten Menschen sich indes hin- und herbewegen, fügt Menke hinzu. Wer düstere Gedanken etwa dem Hausarzt oder einer Psychotherapeutin anvertraue, müsse nicht befürchten, sofort in eine Klinik eingewiesen zu werden. “Das geschieht erst dann, wenn jemand nicht glaubhaft versprechen kann, sich nicht aktiv etwas anzutun, wenn das Ganze also außer Kontrolle geraten ist.”

Seit November ist Ute Lewitzka in Frankfurt am Main als Professorin für Suizidologie und Suizidprävention tätig – die erste derartige Professur in Deutschland. Auch sie beobachtet viele Mythen rund um Selbsttötungen; zum Beispiel, dass man Suizide nicht verhindern könne. Könne jemand etwa wegen Absperrungen nicht von einem Gebäude in den Tod springen, würde er sich eben ein anderes suchen, glaubten viele. “Die meisten sind aber unentschlossen”, betonte die Psychiaterin im vergangenen Jahr beim Katholikentag in Erfurt. “Mir sagen Menschen auch nach einem schweren Suizidversuch hinterher, dass sie froh sind, noch am Leben zu sein.”

Die meisten Menschen würden nicht sterben wollen, sondern nicht so weiterleben wollen wie bisher. Hinweise darauf seien mitunter beiläufig und selbst für Ärztinnen und Ärzte schwer zu erkennen: Das könne etwa der Blick des Mannes zum Friedhof sein, der dann zu seiner Frau sagt: “Ach, die haben es gut”, erläutert Lewitzka.

Die Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention hat einen klaren Rat für Menschen, die sich Sorgen um jemanden im eigenen Umfeld machen: “Haben Sie keine Angst, Sie dürfen sie fragen!” Man bringe das Gegenüber dadurch nicht auf den Gedanken zum Suizid, sondern komme ins Gespräch. Wenn einem das Thema zu nahe gehe, könne man etwa signalisieren, dass man es selber nicht schaffe, aber für Hilfe sorge.

Die US-Psychiaterin Joan Asarnow plädiert zudem dafür, enge Bezugspersonen von psychisch erkrankten Menschen in therapeutische Maßnahmen einzubeziehen: So könnten sie Alarmzeichen eher erkennen und Betroffene dabei unterstützen, eine Art Sicherheitsplan zu entwickeln. Dazu zähle etwa, eigene Stärken zu nutzen, hilfreiche Gedanken, Handlungen und Menschen im Umfeld zu kennen. Asarnow: “Das Ziel ist, rechtzeitig zu merken, wenn man in die Gefahrenzone gerät.”