Heute hat sich offenbar jemand von seiner Tanja Kinkel-Sammlung getrennt. Allein vier Historienromane stehen in den Regalfächern, flankiert von Dürrenmatt, Karl May, Emile Zola, „Schillers Werken“, einem Ratgeber zu Kinderkrankheiten und einem Kenia-Reiseführer. Bis morgen werden wahrscheinlich viele Titel wieder weg sein, ersetzt durch anderen Lesestoff aus zweiter, dritter oder xter Hand. Denn das ist das Prinzip der „Offenen Bücherschränke“, die immer mehr Innenstädte bevölkern.
Auch Kirchengemeinden stellen Schränke auf
Die Idee, Bücher anonym, öffentlich und kostenlos auszutauschen, gibt es schon seit Jahrzehnten in vielen Ländern. US-Künstler bauten etwa alte Stromkästen oder Telefonzellen entsprechend um; private, städtische oder kirchliche Initiativen stellten Bücherregale vor oder in ihren Räumlichkeiten auf. Einen regelrechten Siegeszug trat die „kostenlose Freiluft-Bibliothek“ jedoch vor 15 Jahren von Bonn aus an – dank des Ideenwettbewerbs der neugegründeten Bürgerstiftung.
Die damalige Designstudentin Trixi Royek reichte ihr Konzept eines „Offenen Bücherschranks“ ein: eine zweitürige Kunststele mit mehreren Regalfächern, die sich gut in die Umgebung einpasst. Im November 2003 wurde das Objekt zwischen Südstadt und Hauptbahnhof aufgestellt. „Von da an entwickelte sich das zum Lauffeuer“, sagt der Geschäftsführer der Bürgerstiftung Bonn, Jürgen Reske. In Bonn gibt es bald 20 von der Bürgerstiftung co-finanzierte Offene Bücherschränke.
Von Bonn aus hat die Idee deutschlandweit Schule gemacht. Dabei geht es meistens um mehr als um den Austausch von Literatur: Sie wollen ihren Lebensraum selbst gestalten – quasi möblieren. Hilfestellung dazu leistet auch das Portal „neben-an.de“, das seit etwa drei Jahren in vielen Regionen Erfolge feiert. Das Ziel: Einsamkeit entgegenwirken, Projekte anregen und mit Gleichgesinnten umsetzen. Über Posts wie „Küchenmaschine zu verschenken“, „Wer kann Werkstatt empfehlen?“, „Grundstück gesucht“ über „Yoga im Park“ bis hin zu „Englisch-Stammtisch gegründet“ drückt sich auch die Hoffnung aus, dass sich weitere Kontakte über ganze Quartiere hinweg ergeben.
„Es geht vor allem darum, wie man wieder mehr miteinander lebt als nebeneinander her“, sagt Ina Brunk, Mitgründerin von „nebenan.de“. Das Portal wolle den Blick auf all die „positiven Dinge in der Nachbarschaft“ lenken. „Es gibt nämlich unglaublich viele tolle, lokale Initia-tiven, die sich vor ihrer Haustür engagieren.“
So braucht es für die Freiluftbibliotheken auch „Bücherschrankpaten“, die jeden Tag schauen, dass keine unliebsamen Titel in den Regalfächern stehen: etwa Rechtsradikales, Sektenliteratur oder Pornografie, sagt Jürgen Reske. „Und die auch mit Gleichgesinnten kommunizieren.“ Bücherschränke seien regelrechte Kontaktbörsen. „Wenn du kein Baby hast oder keinen Hund, ist es schwierig, einfach so mit anderen ins Gespräch zu kommen. Dafür ist der Bücherschrank ideal.“
Das erlebt auch die evangelische Gemeinde Sankt Markus im Hamburger Stadtteil Hoheluft, die 2011 einen der ersten Bücherschränke der Hansestadt eröffnete. „Es sind tatsächlich immer ein bis zwei Leute am Bücherschrank, und, oh Wunder, sie sprechen meistens auch miteinander“, schmunzelt Gemeinde-sekretärin Barbara Eimers. „Das ist eine sehr gute Sache, die wir nur weiterempfehlen können.“
Aber was sagt der klassische Buchhandel zu der möglichen Konkurrenz? In Hamburg hatte Initiator Pastor Otto-Michael Dülge die benachbarten Buchläden danach gefragt – und grünes Licht erhalten.
Auch die oberste Vertretung des Buchhandels zeigt sich entspannt. „Öffentliche Bücherschränke können mit dazu beitragen, die Lust am Lesen und an Büchern zu verbreiten“, sagt Thomas Koch, Pressesprecher beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Frankfurt. Genauso der Deutsche Bibliotheksverband: Er sieht einen Gewinn durch Bücherschränke. Viele der Lesemöbel werden sogar von Büchereien betreut, sagt etwa die Leiterin der Thüringer Landesfachstelle für Öffentliche Bibliotheken, Sabine Brunner. Dadurch werde der Zugang zu Bibliotheken noch niederschwelliger.
Das gibt es leider auch hin und wieder: Vandalismus
Leider werden öffentliche Bücherschränke auch manchmal Opfer von Vandalismus. In Bonn-Beuel etwa wurden einmal Bücher aus dem Schrank angezündet. „Da gab es viel Wut und große Proteste von den Bürgern“, berichtet Reske. „Für viele war das wie eine Art Bücherverbrennung; das möchte kein Mensch mehr sehen in Deutschland.“ Das Positive: Rasch war eine Spendenaktion angeleiert, der Schrank wieder repariert und aufgeräumt – initiiert von den Bürgern selbst und gefördert durch den Kontakt über nebenan.de. „Die Community hat dafür gesorgt, dass die Nachbarschaft mobilisiert und der Schrank kostenneutral repariert werden konnte“, sagt Reske. „Auch darüber haben sich wieder viele ken-nengelernt und vernetzt.“
n Eine – allerdings unvollständige – Liste von „Offenen Bücherschränken“ in Deutschland findet sich im Internet unter https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_%C3%B6ffentlicher_B%C3%BCcherschr%C3%A4nke_in_Deutschland.