Ich bin im Demmin der 90er Jahre aufgewachsen. Als ich mit 15 Jahren eine Hausarbeit über das Kriegsende in meiner Heimatstadt schreiben sollte, war das Schweigen darüber groß. Zu DDR-Zeiten waren die Ereignisse gar kein Thema.
Es gibt mehrere Gedenksteine auf dem Stadtfriedhof für die Opfer. 1995 erschien eine Publikation „Das Kriegsende in Demmin 1945“ von Norbert Buske, ich durfte im Stadtarchiv recherchieren. Wenig war zu finden. Das Schweigen zu den Ereignissen von Ende April bis Anfang Mai war laut. Meine Großeltern waren schon verstorben, mein Vater, Jahrgang 1945, konnte mir nicht viel berichten.
Demmin: Massensuizid aus Angst vor der Roten Armee
Erst 2015 erschien das Buch „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ von Florian Huber. Erstmals wurden anhand von Tagebucheinträgen aus dem Deutschen Tagebucharchiv die Ereignisse und die Massenselbstmorde in Demmin rekonstruiert und dokumentiert: Ende April 1945 zogen die Nazis aus Demmin ab, sprengten die Brücken über die Peene und Tollense gen Westen. Flüchtlinge strömten in die Stadt, und von Osten näherte sich die Rote Armee. Tausende gingen ins Wasser der Flüsse, erschossen oder vergifteten sich. Von 1.200 bis 2.500 Menschen ist die Rede. Massensuizid. In der Stadt fielen Schüsse. Die sowjetischen Soldaten feierten den 1. Mai mit Plünderungen und Vergewaltigungen und setzten dann, bevor sie über Notbrücken weiterzogen, die Stadt in Brand.

Huber unterstreicht, dass es auch in anderen Gebieten zu Selbstmorden kam. Als ich dies 2015 meiner Mutter erzählte, sagte sie: „Ja, ich erinnere mich an eine Mitschülerin, die war irgendwie zurückgeblieben. Das kam daher, dass ihre Mutter mit ihr 1945 ins Wasser ging. Sie überlebten beide.“ Meine Mutter war Jahrgang 1947, wuchs in Altentreptow auf. Sie wusste, wie so viele, von solchen Geschehnissen.
Massenselbstmord ab 2015 aufgearbeitet
Gleichzeitig entstand von 2014 bis 2017 der Dokumentarfilm von Martin Farkas „Über Leben in Demmin“ und 2015 der Dokumentarfilm „Die Stille Stunde“ von Axel Schulz. Eine offizielle Aufarbeitung des Massensuizids in Demmin kam ab 2015 langsam in Gang. Die Kirchengemeinde Demmin sorgte vor allem für Aufarbeitung. Doch das Museum und das Archiv existieren nicht mehr, Zeitzeugen sterben langsam weg, was auch eine elfte Klasse des Goethe-Gymnasiums 2019 für ein Projekt schmerzlich erfahren musste.