Was löst es aus, wenn jemand sagt, dass die Muttergottes mit ihm gesprochen hat? In manchen Ländern führt dies zur Gründung von Wallfahrtsorten, manchmal gegen den Willen des Bischofs. Der Vatikan sieht Regelungsbedarf.
Groß war das Medieninteresse, als der oberste Glaubenshüter der katholischen Kirche am Freitag im Vatikan neue Normen zur Beurteilung übernatürlicher Phänomene vorstellte. Im Fokus standen Ereignisse, die viel mit katholischer Volksfrömmigkeit, aber auch mit Kirchenpolitik zu tun haben.
Da sind die unerklärlichen Heilungen, von denen Gläubige nach einem Gebet vor einem Gnadenbild berichten. Hinzu kommen Madonnenstatuen, die Blut oder Tränen auszuströmen scheinen – und damit eine besondere Form der Präsenz des Heiligen andeuten. Solche Phänomene lösen manchmal Pilgerströme zu den Erscheinungsorten aus. Und nicht immer ist klar, ob die damit verbundenen Einnahmen vielleicht auch eine Rolle spielen. Hier klärend und regelnd einzugreifen, ist Aufgabe des jeweiligen Bischofs – vor allem, um zu verhindern, dass Gutgläubige Betrügern auf den Leim gehen.
Noch problematischer ist, wenn Maria Menschen erscheint und ihnen Botschaften übermittelt. Da Jesus erst am Jüngsten Tag wiederkommt, wird für die Zwischenzeit in der Volksfrömmigkeit gerne Maria als Überbringerin “göttlicher Botschaften” benannt. Doch genau die verzerren in manchen Fällen die Offenbarungen aus der Bibel und die kirchliche Lehre – oder stellen sie in Frage. Mitunter fordert die Muttergottes auch neue Dogmen.
So geschehen in Amsterdam, wo sie laut einer – selbsternannten – Seherin ab 1945 als “Frau aller Völker” in mehr als 50 Erscheinungen ankündigte, der Papst werde ein neues Mariendogma verkünden. Maria werde darin zur Miterlöserin und Mittlerin aller Gnaden ernannt werden.
Auch (kirchen)politische Botschaften werden von selbstdeklarierten Sehern der Muttergottes mitunter in den Mund gelegt. Dies war vermutlich auch seit den 1980er Jahren in Medjugorje im damaligen Jugoslawien der Fall und führte die dortigen Bischöfe in Konflikte mit den Sehern.
Dass die Berichte über solche Erscheinungen das Gefüge der kirchlichen Lehrautorität ins Wanken bringen können, liegt auf der Hand. Menschen, die glaubhaft versichern, unmittelbare Anweisungen von der Muttergottes bekommen zu haben, können mit begeisterteren Gefolgsleuten rechnen als mancher Bischof. Rasch werden sie dann auch selbst wie Heilige verehrt – weil sie ja unmittelbar mit dem Heiligen in Kontakt waren.
Um all das zu regeln und zu begrenzen, hatte die Kirche schon früher Richtlinien. Die hatte der Vatikan zuletzt 1978 neu gefasst und zugleich mit Geheimhaltung umgeben. Nur Bischöfen und Kirchenjuristen wurden sie mitgeteilt. Und wenn, wie es die Normen vorsahen, die vatikanische Glaubensbehörde einem Bischof dabei half, zu einer positiven oder negativen Beurteilung solcher Phänomene zu gelangen, musste der Beitrag aus Rom geheimgehalten werden. Konflikte zwischen der Kirchenleitung und selbsterklärten Sehern waren eine Folge dieser wenig transparenten Handhabung.
Um solche Konflikte zu vermeiden und Eruptionen von Volksfrömmigkeit weise zu kanalisieren, hat die vatikanische Glaubensbehörde ihre neuen Normen formuliert. Sie sind transparenter und flexibler als die vorigen. Für den jeweiligen Ortsbischof wird es leichter, in Abstimmung mit dem Vatikan die kirchliche Anerkennung für neue Wallfahrtsorte nach mutmaßlichen Erscheinungen zu erteilen oder zu verweigern. Ab sofort muss er nicht mehr verbindlich entscheiden, ob es sich tatsächlich um übernatürliche Phänomene handelt.
Stattdessen kann er nach eingehender Prüfung eine von sechs Kategorien zur Beurteilung wählen, die vom Genehmigungsvermerk “nihil obstat” (keine Einwände) bis zur “Feststellung der Nicht-Übernatürlichkeit” (verbunden mit einem Verbot) reichen. Dass eine Erscheinung tatsächlich übernatürlich war, kann jetzt nur noch der Papst entscheiden – und auch das nur in seltenen Ausnahmefällen.