Der Regensburger Journalist und Autor Thomas Muggenthaler zeichnet in seinem Buch „Mit dem Leben davongekommen“ die Lebenswege bayerischer Jüdinnen und Juden nach. 34 Porträts erzählen von schleichender Entfremdung, Anfeindungen, sozialem Abstieg und schwierigem Neuanfang. Mit der Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933 begann für Jüdinnen und Juden die Verfolgung. „Man fühlte sich ausgestoßen, man war ausgestoßen“, beschreibt Lore Jonas ihre Gefühle in einem Interview, das Muggenthaler in den 1990er-Jahren in New Rochelle (USA) mit der Frau des Philosophen Hans Jonas („Das Prinzip Verantwortung“) führte. In ihrer Erinnerung sei es ein „Wir wollen mit euch nichts mehr zu tun haben“, das den Jüdinnen und Juden damals entgegenschlug.
Als geborene Lore Weiner in Regensburg aufgewachsen, schildert sie, „wie schon Kleinigkeiten zu markanten Erlebnissen wurden“, erläutert Muggenthaler im epd-Gespräch. „Wer hat sie am Boykott-Tag jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 noch gegrüßt? Sagt jemand, ich darf nicht mit dir spielen, weil du Jude bist. Oder grüßt jemand demonstrativ an diesem Tag.“
Oder Holocaust-Überlebende erinnern sich, wann ihnen jemand ein Brot gegeben oder ein Lächeln geschenkt hat. Diese normalen Zeichen von Sympathie oder Antipathie blieben im Gedächtnis haften. „Da merkt man, dass es nicht nur staatlich verordneter Antisemitismus war, sondern dass es doch in einem gewissen Rahmen Möglichkeiten gab, die verfolgte jüdische Bevölkerung zu unterstützen“, sagt Muggenthaler.
40 Jahre lang befasste sich der Autor mit bayerisch-jüdischen Lebensgeschichten. Der studierte Politik- und Sozialwissenschaftler wurde zweimal mit dem Deutsch-tschechischen Journalistenpreis ausgezeichnet, erhielt den Bayerischen Fernsehpreis und das Bundesverdienstkreuz. Zur regionalen Forschung kam er über seine Magisterarbeit „Cham in der NS-Zeit“. Bereits damals habe er Zeitzeugen kennengelernt – ein Begriff, den es in den frühen 1980er Jahren noch gar nicht gab.
Als einen der ersten interviewte er Ernst Schwarz, einen jüdischen Emigranten aus Cham, den er später in Israel besuchte. Nur wenige kehrten nach dem Exil nach Deutschland zurück. Er suchte sie in Israel, den USA und in Argentinien auf. Oder sprach mit ihnen, wenn sie der alten Heimat einen Besuch abstatteten.
In Regensburg hatte er Kontakt zum Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Hans Rosengold, der als einer der wenigen aus dem Exil in Argentinien in die alte Heimat zurückkehrte. Über ihn ergaben sich weitere Kontakte nach Israel, andere im Ausland zu ehemaligen Jüdinnen und Juden aus Regensburg, Straubing, Weiden, Landshut und München recherchierte er. Zudem sprach Muggenthaler mit ehemaligen KZ-Häftlingen, die die jüdischen Gemeinden in Bayern wieder mit aufgebaut haben. Auch sie hat er porträtiert, unter anderem für Hörfunkbeiträge und Features im Rahmen seiner Arbeit beim Bayerischen Rundfunk, „um ein Gesamtbild herzustellen“.
Es seien sehr unterschiedliche Persönlichkeiten gewesen, die er getroffen habe und die sehr verschieden auf ihre Verfolgung reagierten. Manche sind nie wieder ins Land der Täter gereist wie Gerda Oppenheimer (geborene Farntrog). „Aus meiner Sicht eine sehr verständliche Haltung“, sagt Muggenthaler. Ihren Eltern gelang die Ausreise nicht mehr, sie wurden 1942 deportiert, vermutlich nach Auschwitz. Andere kamen nur zu Besuch wie Rosel Steiner (geborene Wertheimber), die Regensburg über alles geliebt habe. Oder Ruth Nizav (geborene Sämann), die das Grab ihres Vaters in Regensburg besuchte, alle Jahrgang 1923. In dem Land, das ihre Familie zerstört hatte, wollte keine mehr leben.
Aber es gab auch Juden, die wieder zurückgekehrt sind, wie Hans Rosengold, dessen Mutter in die alte Heimat nach Regensburg wollte. Oder Erich Spitz aus Straubing: „Bayern ist Bayern, ich bin hier zu Hause.“ Und dann gab es die ehemaligen KZ-Häftlinge, für die von heute auf morgen nicht alles wieder normal wurde, wie bei den beiden Auschwitz-Überlebenden Otto Schwerdt oder Israel Offman, die eigentlich aus Polen stammten. Sie bauten die jüdischen Gemeinden nach der Shoah in Regensburg bzw. Straubing wieder mit auf.
So unterschiedlich die Erfahrungen der Emigrierten und KZ-Überlebenden waren, die existenziellen Erschütterungen in ihren Biografien werden deutlich, mit radikalen Brüchen in ihrer gesamten privaten Welt. Wenn Lore Jonas später bei ihren Besuchen in Regensburg über den Neupfarrplatz geht, nimmt sie die Stadt anders wahr als andere: Geschäfte jüdischer Inhaber sind verschwunden, die Familie Brandis, die damals mit in ihrem Haus wohnte, verpasste den letzten Zug ins Exil und überlebte nicht. Es bleiben Leerstellen für immer. All diese Geschichten für die Nachwelt dokumentiert zu haben, ist eine der großen Stärken des Buchs „Mit dem Leben davongekommen“. (3484/09.11.2025)