TV-Shows wie “Das Supertalent” gab es in den 1920ern noch nicht. Vielleicht wäre sie eine gute Kandidatin gewesen: “Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne” zeigt, wie man auch ohne Talent zum Star werden kann.
In Zusammenarbeit mit dem Kinoportal filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission bietet die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) Fernsehtipps zu besonderen Filmen im deutschen Fernsehen:
Im Jahr 1920 wünscht sich eine reiche Baronin (Catherine Frot) trotz mangelnden Talents nichts sehnlicher, als eine gefeierte Operndiva zu sein. Die Hobbysängerin kommt ihrem Ziel näher, als sie von einem progressiven Musikkritiker nach einer Darbietung im privaten Kreis wegen ihrer passionierten Hingabe an ihre Musik hochgelobt wird.
Frei nach der Vita von Florence Foster Jenkins (1868-1944) zeichnet die sehenswerte Tragikomödie von Xavier Giannoli aus dem Jahr 2015 ein vielschichtiges Frauenporträt. Zugleich hinterfragt der Film den Kunstbegriff, indem er die Sängerin mit der französischen Avantgarde-Bewegung in Zusammenhang bringt.
Eigentlich ist es ungeheuerlich, wozu sich Madame Dumont erdreistet. Aber genau das macht ihre Figur so faszinierend: Die Baronin lässt sich als Operndiva feiern, obwohl sie keinerlei Begabung dazu hat. Ihre Stimme ist dünn, nicht immer trifft sie den Ton, und trotzdem wagt sie sich an die schwierigsten Arien.
Sie verfügt eben über das nötige Geld, um ihren Traum bedingungslos verfolgen zu können. Ohne jede Scham tritt sie in ihrem Schloss bei einem Konzert für Kriegswaisen als “Königin der Nacht” auf. Die geschlossene Gesellschaft ist es gewohnt, den misstönenden Vortrag höflich über sich ergehen zu lassen und der Sängerin unter Regie ihres Butlers Madelbos zu applaudieren.
Von der exquisiten Inszenierung lässt sich auch Musikkritiker Lucien Beaumont einfangen, obwohl ihm ihr mangelndes Talent nicht verborgen bleibt. Nach seiner hymnischen Kritik gefällt es Marguerite umso mehr, sich im Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit zu sonnen, so dass sie einen Konzertabend in der Pariser Oper plant. Für dieses große Ereignis soll der einstige Opernstar Atos Pezzini mit ihr ein passendes Programm einstudieren.
Sehr plastisch macht der 1972 geborene französische Regisseur Xavier Giannoli deutlich, wie ein Künstler gemacht und dadurch letztlich selbst zum Kunstwerk wird. In seinem vielschichtigen Film arbeiten der eigene Ehrgeiz und der anderer mit den Medien Hand in Hand, wobei es nicht immer um Kunst und Talent geht.
Mit grotesk-komischen Mitteln deckt Giannoli diese verkehrte Welt auf und veranschaulicht, wie sich alle einspannen lassen, weil sie von Marguerite profitieren. So auch ihr Lehrer Pezzini, der Oscar Wilde wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Gern genießt er mit seinem illustren Tross das Geld und die hervorragende Verpflegung, auch wenn er es nicht schafft, Marguerites Stimme weiterzuentwickeln.
Mit Madame Dumont gelingt dem Film ein beeindruckendes fiktives Frauenporträt, woran auch Hauptdarstellerin Catherine Frot einen großen Anteil hat. Giannoli spürt der Tragik einer Entwicklung nach, die darin liegt, dass die Protagonistin in ihrem falschen Selbstbild bestärkt wird.
Der Film spielt im Jahr 1920, also einer Zeit, als sich Frauen von dem traditionellen Bild der Weiblichkeit emanzipierten und die “Gleichheit der Geschlechter” entdeckten. Sie trugen die Haare kurz und strebten den zahlreichen Amüsierlokalen zu, um Kleinkunst und Sinnlichkeit zu erleben.
Marguerite Dumont dagegen hält am weiblichen Geschlechterideal des 19. Jahrhunderts fest. Ihr Wunsch, von ihrem sie bevormundenden Ehemann anerkannt und bewundert zu werden, findet bei ihm freilich kein Gehör. Freundlich hält sie der Baron auf Distanz, und da er eine arbeitende Frau für unschicklich hält, verliert sie sich in der Musik, die ihr gestattet, ihre Emotionen auszuleben.
Die ästhetisch durchkomponierte Ausstattung und der kunstvoll arrangierte Soundtrack machen wunderbar deutlich, dass Marguerite in den erlesenen Räumen des Schlosses eingesperrt ist wie in einen goldenen Käfig. Alles ist geschmackvoll drapiert, makellos spiegelt sich die Oberfläche. Doch die Freiheit, die sich die Protagonistin nimmt, ist eine falsche: Marguerite weiß nicht um ihre unzureichende Stimme und ihr unterentwickeltes Selbst, und so gleicht sie einer der vielen unglückseligen weiblichen Opernfiguren.