Die To-do-Liste als Ideensammlung, Krümel auf dem Tisch als Vertrauensbeweis gegenüber Gästen: Kleine Perspektivwechsel können den inneren Druck mindern, den viele Menschen spüren. Darum geht es auch in einem neuen Buch.
Es ist wohl kein Zufall, dass dieses Buch jetzt erscheint: früh im neuen Jahr, die Hoffnung auf Neubeginn noch in der Luft. Gleich am 2. Januar oder zwischen den Jahren, das wäre vielleicht zu perfekt platziert gewesen für ein Buch, das für die Erkenntnis wirbt, “dass man sein Leben nie in den Griff bekommen wird”. Am (heutigen) Freitag erscheint “Leider nicht unsterblich”, das laut Untertitel etwas bietet, wonach sich viele Menschen sehnen: “Hilfreiche Gedanken für weniger Stress und mehr vom Leben”.
Dem britischen Autor Oliver Burkeman geht es, wie er schreibt, nicht um einen weiteren Ratgeber zur Selbstoptimierung, sondern vielmehr darum, das Leben nicht als Aufgabe zu betrachten, die man irgendwie bewältigen müsse oder gar als Problem, das es zu lösen gelte.
Eine Hinwendung zum “Imperfektionismus”, wie Burkeman sie empfiehlt, bedeutet für ihn nicht, keine Ziele mehr zu verfolgen. Humorvoll und mit vielen Bezügen zu Denkern der Antike (Horaz, Marc Aurel) bis in die Gegenwart (Byung-Chul Han, Annie Dillard) gibt der Autor konkrete Anstöße, die zu verblüffenden Selbsterkenntnissen führen können.
Zum Beispiel: Gehört man womöglich auch zu denjenigen, die zunächst ein Meditationskissen, eine Klangschale und ein passendes Outfit kaufen, zig Meditationskurse verfolgen und Artikel lesen – statt einfach endlich einmal zu meditieren? Grübelt man über die optimale Erledigung einer Aufgabe so lange nach, bis die Deadline naht – statt “möglichst täglich” konzentriert daran zu arbeiten, und sei es nur ein bisschen? Oder fühlt man sich schlecht, wenn eine Tätigkeit allzu leichtfällt, gar Freude bereitet, weil man mit “Handeln” stets eine Herausforderung verbindet?
Burkeman beschreibt Alltagssituationen, die vielen Menschen vertraut sein dürften: wie etwa der Vorsatz, die Flut von E-Mails rasch abzuarbeiten, dazu führt, dass wiederum neue Antworten eintrudeln – und man in der “Effizienz-Falle” landet. Der Religionspsychologe Lars Allolio-Näcke sieht hier einen Unterschied zwischen den Generationen: Junge Menschen sähen Arbeit seltener als integralen Bestandteil des Lebens, sagt er im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) – eher als Pflicht denn als identitätsstiftend.
Also Hamsterrad bei manchen, Hängematte bei anderen? Das trifft es insofern nicht, als das Streben nach Optimierung unterschiedliche Lebensbereiche durchzieht. Nach Weihnachten – traditionell ein gesellschaftlicher Ruhepol, ein Zeitpunkt für Besinnlichkeit und Besinnung – hätten vor allem junge Menschen berichtet, dass sie nach all den familiären Terminen erstmal Erholung bräuchten, sagt Allolio-Näcke. “Wir müssten wieder entdecken, was uns Freude macht. Zum Beispiel zum Sport gehen, weil es gut tut – nicht, weil die Aufgabe lautet: sportlich sein!”
Wenn dies auf Dauer nicht gelingt, droht laut Burkeman ein Verlust an Lebendigkeit, der bis zum Burnout führen könne. “Unsere ständigen Bemühungen, auf den Fahrersitz des Lebens zu gelangen, berauben es offenbar jenes Gefühls des Lebendigseins, das es überhaupt erst lebenswert macht”, schreibt er. Auf diese Weise verkümmerten auch neue Ideen, ergänzt Allolio-Näcke: Wer stetig optimieren wolle, bewege sich in einem selbstgesteckten Rahmen, statt über den Tellerrand zu blicken, folge nicht selten verbissen einem Ziel, statt sich begeistern zu lassen.
Immer mehr Kontrolle über den Alltag, das Sozial- und sogar das Liebesleben – dieses Bestreben wurzelt in Unsicherheit, fügt der Religionspsychologe hinzu. “Die Bedrohung durch Katastrophen, wilde Tiere und andere Urängste wollen wir durch Kontrolle minimieren.” Wo früher die Vorstellung vorherrschte, dass der Dorfpfarrer durch die Beichte sehr vieles und der liebe Gott ohnehin alles weiß, da überwacht sich der moderne Mensch inzwischen selbst – mit Blutdruckmessgerät, Schlaf-App und Fitness-Armband.
Dass ein erfülltes Leben jedoch auch mit Unberechenbarkeit zu tun hat, veranschaulicht Burkeman wiederum alltagsnah: “Ein Fußballspiel ist aufregend, weil man nicht weiß, wer gewinnt”.
Doch wie kann es gelingen, diesen Erkenntnissen in der Praxis zu folgen? Es sei ein Luxus, überhaupt darüber nachdenken zu können, gibt Allolio-Näcke zu bedenken. In früheren Zeiten, das schreibt auch Burkeman, hätten die Menschen intuitiv stärker priorisiert: Welches Problem kann ich heute lösen, welche Beziehung kitten, bei welchem Verhalten eine erste kleine Veränderung vornehmen? Ebenso könne es derweil befreiend wirken, sich einzugestehen, dass manches sich wohl nie ändern werde – und dass dennoch gelte: “Vielleicht bin ich der Aufgabe, ein sinnvolles Leben zu führen, im Grund schon immer gewachsen gewesen.”