Dalai Lama, Inka, Tenno: Über Jahrhunderte wurden Völker des Erdballs von gottähnlichen Herrschern regiert – bis zu deren Tod. Doch das hektisch-globalisierte 21. Jahrhundert zehrt die Kräfte der Lebenslänglichen auf.
Es gab in der Geschichte viele Gründe, warum Herrscher, die auch als Gottheit verehrt wurden, aus dem Olymp hinabsteigen mussten. Politische Niederlagen und die historische Wasserscheide der Aufklärung in Europa waren sicher die wichtigsten. Regelmäßig wurden Göttersöhne von neuen Realitäten eingeholt: Ägyptens Pharaonen als Vermittler zu den Göttern von den (noch nicht dekadenten) Römern; die (dekadenten) römischen Gottkaiser von ihren Nachfolgern; die Inkas (Sonnenkönige) von den Spaniern; der rumänische “Sohn der Sonne” Nicolae Ceausescu 1989 von seinem hungernden Volk.
Eine einzigartige Rolle auf der Weltbühne spielt der 14. Dalai Lama, der am Sonntag (6. Juli) 90 Jahre alt wird: Reinkarnation eines Gottes, politische Unperson, abgedankter König ohne Land, hofierter Flüchtling, freundlicher Friedensmahner, Stachel im Fleisch von China-Profiteuren. Seit mehr als 85 Jahren sitzt er symbolisch auf seinem Thron; allerdings fast ebenso lang blockiert von der chinesischen Besatzung. 2011 gab Tenzin Gyatso, so sein Mönchsname, seine weltliche Macht (bzw. Machtlosigkeit) an einen gewählten Ministerpräsidenten ab. Die religiöse Dimension des Amtes soll auch weiter erhalten bleiben – eine 15. Reinkarnation hat er jüngst angekündigt.
In Japan ist auch der Tenno amtsmüde geworden. Seit dem nationalen Fiasko des Zweiten Weltkriegs wird der japanische Kaiser nicht mehr als göttlich angesehen. Hirohito (1926-1989) stellte 1945 öffentlich klar, dass er kein göttliches Wesen (“Arahitogami”) sei. Das Szenario eines Amtsverzichts war im Land der Aufgehenden Sonne allerdings keineswegs vorgesehen.
Doch das schnelllebige 21. Jahrhundert fordert seinen Tribut von den alten Traditionen. Das empfand offenbar auch Kaiser Akihito (91) so. Er war sich der Tragweite bewusst, als er sich in seiner erst zweiten TV-Ansprache seit dem Amtsantritt 1989 an sein Volk wandte – und auf seine schwindenden Kräfte verwies. Nach seiner Abdankung 2019 wurde Akihitos ältester Sohn Naruhito (65) offiziell als 126. Tenno ausgerufen.
In Deutschland hat Angela Merkel (70, CDU) mit 5.860 Tagen im Bundeskanzleramt (2005-2021) zunächst Konrad Adenauer (1949-1963) und fast auch noch Helmut Kohl (1982-1998) wegregiert. Zu letzterem fehlten ihr am Ende aber knapp zwei Wochen.
Die europäische Spielart religiöser Herrschaftslegitimation war das sogenannte Gottesgnadentum. Über ein Jahrtausend – von Karl dem Großen im Jahr 800 bis Franz II. 1806 – konnten sich die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches im Westen auf die Theorie der zwei Schwerter berufen. Laut dieser spätantiken Idee, die von einer starken Identifizierung zwischen Reich und Kirche ausging, hat Gott zur Leitung der Welt die weltliche Gewalt und die geistliche Autorität der Bischöfe eingesetzt.
“Du weißt, allergnädigster Sohn”, schrieb Papst Gelasius 494 an Kaiser Anastasios in Konstantinopel, “dass du, obwohl an Würde über das Menschengeschlecht gesetzt, dennoch den Vorstehern der göttlichen Dinge fromm den Nacken beugst und von ihnen die Mittel deines Heils erwartest.” Nicht fromm den Nacken beugte Frankreichs “Sonnenkönig” Ludwig XIV. (1643-1715), der gleich seinen ganzen Staat durch sich selbst definierte.
Überhaupt, die Päpste: “Wenn Gott uns das Papsttum geschenkt hat, dann wollen wir es auch nutzen”, hatte der Renaissancefürst Leo X. (1513-1521) nach seiner Krönung verkündet. Auch wenn sich solch laxes Amtsverständnis als Stellvertreter Christi auf Erden in den 500 Jahren bis zum “Papst der Armen” Franziskus und seinem Nachfolger Leo XIV. deutlich geändert hat: Auf Lebenszeit amtierten die allermeisten Päpste der Kirchengeschichte. Der schwerkranke Mystiker Johannes Paul II. (1978-2005) litt und starb quasi öffentlich.
Benedikt XVI. (2005-2013), der erste Papst des 21. Jahrhunderts, durchbrach das ungeschriebene Gesetz und legte das Amt unter Verweis auf seine nachlassenden Kräfte mit fast 86 Jahren nieder. Und dessen kürzlich 88-jährig gestorbener Nachfolger Franziskus (2013-2025), der erste Jesuit auf dem Papstthron, hat mehrfach angedeutet, dass dies ein Modell mit Zukunft sein könnte – ohne die Karte am Ende selbst gezogen zu haben.
Auch Franziskus’ Orden, die Jesuiten, brachen zuletzt mit der jahrhundertealten Tradition des “lebenslänglich”: Mit Adolfo Nicolás amtierte bereits der dritte Jesuitengeneral hintereinander – einst wegen der Macht des Amtes auch “Schwarzer Papst” genannt – nicht mehr bis zum Tod. 2016 wurde Arturo Sosa (76) zu Nicolas’ Nachfolger gewählt. Es brauche zur Leitung des größten katholischen Männerordens die volle Kraft, argumentierte der damals 80-jährige Nicolas.
Ein Solitär – in vielerlei Hinsicht – war Queen Elizabeth II. (1926-2022). 70 Jahre war sie Königin des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland sowie von zuletzt 14 weiteren, als Commonwealth Realms bezeichneten souveränen Staaten – keine Gottkönigin zwar, aber immerhin anglikanisches Kirchenoberhaupt und ohne alle persönlichen Skandale.
Das am längsten regierende lebende Staatsoberhaupt seither ist Sultan Haji Hassanal Bolkiah Mu’izzaddin Waddaulah ibni Al-Marhum Sultan Haji Omar Ali Saifuddien Sa’adul Khairi Waddien, der 29. Sultan und Yang Di-Pertuan von Brunei. Der erst 78-Jährige bringt seit 4. Oktober 1967 mehr als 21.000 Amtstage [21.091; Stand 3. Juli 2025] auf die Zeitwaage.
Die Online-Enzyklopädie Wikipedía – mit Betonung auf dem letzten i, wie Kenner des klassischen Griechisch einfordern – bietet auf seiner “Liste der Staatsoberhäupter nach Amtszeiten” noch den Unterpunkt “Abwesende bzw. Entrückte als De-jure-Staatsoberhäupter” – und als einziges Beispiel Muhammad al-Mahdi, den sogenannten Zwölften Imam der Schiiten.
Er befinde sich, so heißt es dort, seit dem Jahr 941 im Zustand der Entrückung und ist laut Verfassung der Islamischen Republik Iran von 1979 deren eigentliches Staatsoberhaupt. Der Klerus (in Gestalt von Religionsführer Ali Chamenei, seit 1989) herrsche “nach dieser Auffassung nur in Stellvertretung des Imams bis zu dessen Wiederkehr aus der Verborgenheit”.
Und selbst Tote können mitunter Staatsoberhaupt sein: Kim Il-sung (gestorben 1994) ist laut Nordkoreas Verfassung ewiger Präsident und somit auch weiter Staatsoberhaupt. De facto übt der Vorsitzende der Obersten Volksversammlung, Choe Ryong-hae (75), diese Rolle aus. Tatsächlicher Machthaber ist freilich seit 2011 Kim-Enkel Kim Jong-un (41).