Es sind bewegende Momente: Sechs Holocaust-Überlebende sind an den Ort ihres Grauens zurückgekehrt. Hochbetagt befinden sie sich auf dem Appellplatz der KZ-Gedenkstätte. Noch immer überkomme ihn ein kalter Schauer, der Körper erinnere sich instinktiv, wenn er diesen Platz betrete, schilderte die Tochter für ihren 99-jährigen Vater, Leon Weintraub (Stockholm). Er ist einer der angereisten Überlebenden. Die anderen: Herzog Max in Bayern (München), Leszek Zukowski (Warschau), Slomo Selinger (Paris), Josef Salomonovic (Wien) und zum ersten Mal auch Lydia Tischler aus England, die im Flossenbürger Außenlager Oederan gefangen gehalten wurde.
Die Gedenkstätte Flossenbürg feierte am Sonntag den 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers. Mehr als 900 Menschen aus insgesamt 22 Nationen sowie zahlreiche Familienangehörige der Überlebenden erinnerten an das unmenschliche Leiden der Inhaftierten und richteten mahnende Worte an die Nachwelt. In dem Lager mit seinen Außenstellen waren zwischen 1938 und 1945 mehr als 100.000 Menschen inhaftiert, mehr als 30.000 Menschen überlebten die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht.
Der Schrecken habe vor 80 Jahren ein Ende gehabt, aber nicht die Erinnerung, sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) als Hauptredner des Gedenkaktes. „Wir reden hier nicht nur über die Schmerzen, die es damals gab, sondern auch über die Verwundungen der Seelen, die bis heute gelten und niemals auslöschbar sind.“ Er wolle als Ministerpräsident ein „persönliches Bekenntnis und Zeugnis ablegen – gerade in den Zeiten, die wir jetzt erleben“. Das „Nie wieder!“ dürfe angesichts von Antisemitismus und Rassismus nicht zu einer Formel verkommen, sagte Söder. Der Staat, die Staatengemeinschaft und die darin handelnden Personen seien „von großer Entschlossenheit“: Das „Nie wieder!“, „das im Zweifelsfall auch erkämpft“ werden müsse, gelte auch heute noch. Jeder der sich angegriffen fühle, könne sich auf dieses Staatsversprechen verlassen.
„Ist es ein Tag, den wir feiern können?“, fragte Landtags-Vizepräsident Tobias Reiß (CSU) angesichts der acht Jahrzehnte nach der Befreiung des Lagers durch die US-Armee. Seit drei Jahren herrsche wieder Krieg in Europa – und die Feinde der Demokratie „greifen uns unverhohlen“ an, sagte der Repräsentant des bayerischen Parlaments. In seiner Gedenkrede rief er die Menschen dazu auf, sich für Demokratie und Freiheit einzusetzen. „An diesem 80. Jahrestag kommt kein alliierter Retter. Wir stehen selbst in der Pflicht“, mahnte er.
Die Menschheit lerne selten aus der Geschichte, der Holocaust sei da keine Ausnahme, obwohl er so ausführlich dokumentiert sei, sagte Emilia Rotstein, die Tochter des ehemaligen Häftlings und Überlebenden Leon Weintraub. „Trotzdem gibt es jetzt wieder Verneiner, Menschen, die behaupten, es wäre nie geschehen“, gab die Angehörige zu bedenken. Die nachfolgenden Generationen stünden in der Verantwortung: „Das Vergessen würde den Opfern abermals das Leben rauben.“
80 Jahre nach Kriegsende sei es „mehr denn je notwendig, die Erinnerung wachzuhalten“, sagte die kommissarische Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Claudia Roth (Grüne). Weltweit, auch in Deutschland, verhinderten und zerstörten „Hassparolen auf Straßen und in Parlamenten das vernünftige Gespräch, völkische Ideologen führen das große Wort und bringen Mahner zum Schweigen“. Die liberale Demokratie und ein Leben in Freiheit seien keine Selbstverständlichkeit, „sie müssen Tag für Tag aufs Neue verteidigt werden“, betonte Roth.
Bayerns Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) mahnte, die unfassbaren Verbrechen, die an diesem Ort verübt wurden, „niemals in Vergessenheit“ geraten zu lassen. In der Verantwortung stünden auch die Schulen, betonte die Ministerin: „Junge Menschen müssen wissen, wohin Ausgrenzung, Hass und Diskriminierung führen können.“
Bis zur Befreiung des Lagers am 23. April 1945 durch die amerikanischen Alliierten durchliefen 100.000 Gefangene das Lager oder eines seiner 80 Außenlager. Fast ein Drittel überlebte nicht. Die SS beutete die Arbeitskraft von Häftlingen im örtlichen Steinbruch gezielt aus. Es herrschten schwerste Zwangsarbeit, Hunger, Krankheit und Gewalt. „Vernichtung durch Arbeit war das Prinzip“, sagte Karl Freller, der Direktor der Stiftung bayerische Gedenkstätten. Für die Gedenkstätte sei es ein „wichtiger Meilenstein“, dass der kommerzielle Abbau im ehemaligen Steinbruch nun endlich eingestellt sei. Damit könne der authentische Ort als Teil der Gedenkstätte öffentlich zugänglich gemacht werden.