“Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt haben.” So gestanden evangelische Christen 1945 eine Mitschuld an NS-Verbrechen ein. 80 Jahre später warnt Landesbischof Gohl, Zeichen der Zeit rechtzeitig zu erkennen.
Der württembergische Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl fordert Christen auf, sich als Lehre aus der NS-Zeit stärker gegen aktuelle menschenfeindliche Tendenzen in der Gesellschaft einzusetzen. Christen müssten heute “rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkennen” und mutig für die Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit eintreten, sagte Gohl anlässlich der “Stuttgarter Schulderklärung” vor 80 Jahren.
Die Erklärung war das erste Eingeständnis der damals neu gegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), in der Zeit des Nationalsozialismus versagt zu haben. Gohl betonte, die evangelische Kirche trage eine historische Mitschuld an dem Grauen von Auschwitz.
Mit Blick auf die “gegenwärtige Situation in Deutschland und der Welt” sagte der Landesbischof in vorab veröffentlichten Predigtauszügen: “Erkenne ich die Zeichen der Zeit, wenn gegen Menschen gehetzt und gegen ganze Menschengruppen und Minderheiten Vorurteile geschürt werden? Widerspreche ich deutlich genug dem Antisemitismus, der sich nach dem 7. Oktober 2023 und dem Gaza-Krieg in erschreckender Weise Bahn gebrochen hat – nicht nur in Berlin, sondern auch bei uns in Stuttgart?”
Gohl predigt in einem Gedenkgottesdienst in Stuttgart am 19. Oktober, an dem sich die Stuttgarter Schulderklärung zum 80. Mal jährt. Das historische Dokument sei “das Eingeständnis einer historischen Schuld und eines beispiellosen Versagens der Christen und der Evangelischen Kirche in Deutschland an diesem Verbrechen” gewesen, betont Gohl.
Die Stuttgarter Erklärung hielt fest: “Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.” Zwar habe die Kirche “im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.”
Gohl verwies auf einen “blinden Fleck” des Dokuments, das vom EKD-Rat am 18./19. Oktober 1945 in Stuttgart verfasst wurde. “Was fehlt, ist die ausdrückliche Erwähnung der Schuld gegenüber den Jüdinnen und Juden in Deutschland und an unzähligen Orten dieser Welt. Denn die evangelische Kirche trägt eine Mitschuld an dem Grauen von Auschwitz, an den sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden”, so der Landesbischof. Die Aufarbeitung dieser Mitschuld, des christlichen Antisemitismus und des Holocaust, habe erst fünf Jahre später bei der EKD-Synode in Berlin-Weißensee begonnen.