Die bundesweite Aktionswoche zur seelischen Gesundheit steht in diesem Jahr unter dem Motto „Lass Zuversicht wachsen – psychisch stark in die Zukunft“. Sie will aufklären und zur Offenheit im Umgang mit psychischen Belastungen ermutigen, entstigmatisieren und Hilfsangebote transparent machen. Ein notwendiges Anliegen. Denn rund 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland sind von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht rund 17,8 Millionen Menschen. Von denen nehmen pro Jahr nur 18,9 Prozent Kontakt zu Behandlerinnen und Behandlern auf, informiert die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Weltweit gehört Suizid laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu den häufigsten Todesursachen unter den 15- bis 29-Jährigen. Aufklärung tut also weiterhin Not.
Seelische Gesundheit jenseits von Krankheit
Wenn allerdings angesichts der „seelischen Gesundheit“ nur von psychischen Erkrankungen die Rede ist, erstaunt es mich. Sicher, hinter dieser Terminologie steckt die Übersetzung des griechischen Wortes für Seele „psychä“. Und ich bin natürlich froh, dass die für unsere körperliche Gesundheit so wichtige psychische Gesundheit in den Blick genommen wird, dass psychische Erkrankungen aus der gesellschaftlichen Tabuzone der Scham befreit werden. Und dass Therapiemöglichkeiten wie Prävention und die Stärkung von Resilienz Thema des öffentlichen Gespräches werden – wir brauchen das.
Aber mich irritiert, dass seelische Gesundheit nur im Hinblick auf eine psychische Krankheit und deren Vermeidung Thema sein soll – spielen sich doch die wesentlichen seelischen Vorgänge, die für unsere seelische Gesundheit entscheidend sind, diesseits psychischer Erkrankungen ab. Die klinische Terminologie trifft sie nur unzureichend und sehr einseitig.
Spirituelle Dimension
Als die Gründerväter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1948 versuchten, „Gesundheit“ umfassend zu umschreiben, wollten sie verdeutlichen, dass Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit – so die WHO-Definition – ist ein Zustand des vollkommenen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Die größte Bedeutung liegt in der Integration von körperlicher, geistiger und sozialer Gesundheit. Die spirituelle Dimension wurde erstmals 1998 auf der Weltgesundheitsversammlung vorgeschlagen und in der Bangkok Charter 2005 ausdrücklich einbezogen: „Gesundheitsförderung bietet ein positives und inklusives Konzept von Gesundheit als bestimmendem Faktor für Lebensqualität und beinhaltet geistiges und spirituelles Wohlbefinden.“
Seit die Hospizbewegung und die Palliativmedizin das Wissen um den „spirituellen Schmerz“ verbreitet haben – also den Schmerz, der mit existenziellen Fragen und Zweifeln an Gottes Gerechtigkeit verbunden ist – ist die seelische Dimension des Menschseins aus der Gesundheitsversorgung nicht mehr wegzudenken.
Spiritueller Schmerz und Palliative Care
Die WHO-Definition von Palliative Care (2002) schließt die spirituelle Dimension ausdrücklich ein: „Palliativpflege ist ein Ansatz, der die Lebensqualität von Patienten und ihren Familien verbessert, die mit den Problemen einer lebensbedrohlichen Krankheit konfrontiert sind. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden durch frühzeitige Erkennung und einwandfreie Beurteilung und Behandlung von Schmerzen und anderen körperlichen, psychosozialen und spirituellen Problemen.“
Seelisch gesund zu sein bedeutet mehr, als keine Depression zu haben. Es bedeutet, mit Krisen umgehen zu können, ohne darin zu erstarren oder daran zu zerbrechen. Es bedeutet, resilient zu sein und über gute Verarbeitungsstrategien zu verfügen. Ich denke an viele Krisenmomente in der Krankenhausseelsorge – und den seelischen Beistand, der dazu beiträgt, dass Menschen in Krisensituationen seelisch stabilisiert „heil“ bleiben, in aller Krankheit.
Beispiele aus der Krankenhausseelsorge
Die junge Frau, die gerade eine Brustkrebsdiagnose erhalten hat – schon metastasiert. Erschüttert sind nicht nur sie selbst und ihr Mann, sondern auch die junge Assistenzärztin, die zum ersten Mal diese Diagnose übermitteln musste. Die Seelsorgerin begleitet die Familie zwischen Bodenlosigkeit und Hoffnung und später die Assistenzärztin. Überforderung und Tränen dürfen sein.
Der Mann, Mitte fünfzig, fällt beim Duschen um. Mit Hirnbluten kommt er auf die Intensivstation. Der Seelsorger begleitet seine Frau und beide erwachsenen Kinder täglich und ist da, als entschieden wird, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr gegeben werden. Trauer, Hand halten, Schweigen, Gebet und Segen gehören dazu.
Wenn wir großes Leid erfahren, geraten wir in innere Not – etwa durch lebensgefährliche Erkrankungen, Schuldgefühle, Ängste, Schmerzen oder Einsamkeit. Das sind typische Gesprächsgegenstände in der Seelsorge. Erschöpfung, Ängste und Überforderung spielen dabei oft eine Rolle, und manchmal läge auch eine psychische Störung vor. Entscheidend ist, dass Menschen in Krisen kurzfristig seelische Unterstützung benötigen.
Kirchliche Seelsorge hilft beim Bewältigen
Ob Sinnkrise, existenzielle Krise oder der Tod – Seelsorge ist eine Partnerin beim Bewältigen solcher Situationen. Sie nimmt Anteil, hilft Perspektiven zu setzen und stabilisiert seelische Gesundheit. Kirche ist auf unterschiedlichen Ebenen gefragt: in der Gemeindeseelsorge, Telefonseelsorge, Altenpflegeheimseelsorge oder Krankenhausseelsorge. In komplexen Krankenhaus-Situationen braucht Kirche qualifizierte Hauptamtliche, die über pastoralpsychologische Ausbildung, theologische Sprachfähigkeit sowie kontinuierliche Supervision und Fortbildung verfügen. Nur so kann seelsorgliche Begleitung in Krisen angemessen erfolgen.
Zeit und Qualifikation sind entscheidend. Doch Krankenhausseelsorge ist angesichts knapper Mittel bedroht. Stellen sollen gekürzt oder nicht wiederbesetzt werden, weniger qualifizierte Mitarbeitende sollen Aufgaben übernehmen. Kirche ist relevant, wenn sie seelsorglich da ist – nicht erst, wenn aus seelischer Not eine behandlungsbedürftige Krankheit geworden ist, sondern davor, daneben und darüber hinaus.
Würdigung der Seelsorge
Die Woche der seelischen Gesundheit könnte Anlass sein, den Schatz der Seelsorge zu würdigen. Sie bringt eine eigene, unersetzliche Perspektive auf seelische Gesundheit ein – nicht als Konkurrenz zur Psychotherapie, sondern als Ergänzung. Ziel ist nicht Therapie, sondern da sein: suchend, glaubend, hoffend. Nicht weil alles immer gut ausgeht, sondern weil es zutiefst sinnvoll ist. Damit leistet Kirche einen großen Beitrag zur seelischen Gesundheit.
Anne Heimendahl ist landeskirchliche Pfarrerin für Krankenhaus- und Altenpflegeheimseelsorge der EKBO.
