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Klarheit schaffen

Kindern zu helfen, in der religiösen Pluralität ihre eigene Identität zu finden – das ist die Herausforderung der Zukunft

Meike Böchemeyer

Lehrerinnen und Lehrer aller Schulformen stehen vor großen Herausforderungen. Der gesellschaftliche Wandel wirkt sich auch auf die Schule aus. Das betrifft nicht zuletzt die Religionslehrerinnen und Religionslehrer. Wo bei ihnen aktuell der Schuh drückt und welche Herausforderungen anstehen, darüber sprach Annemarie Heibrock mit Rainer Timmer (Foto), dem Leiter des Pädagogischen Instituts der Evangelischen Kirche von Westfalen (PI). Anlass war der Tag für  Lehrerinnen und Lehrer am 29. September in Dortmund.

Sie sind als Leiter des Pädagogischen Instituts nahe an der Berufsgruppe der Lehrerinnen und Lehrer. Wo drückt denn dort zur Zeit der Schuh?
Lehrermangel und Inklusion, das sind wohl aktuell die drängendsten Fragen, mit denen sich Lehrerinnen und Lehrer konfrontiert sehen.

Und wie sieht es bei den Religionslehrern aus? Das ist ja die Gruppe, mit der Sie es speziell zu tun haben…
Da ist zunächst die gewachsene religiöse Pluralität in unseren Schulen, die die Lehrer beschäftigt. Notgedrungen wird vielfach nicht nach Konfessionen getrennt, sondern im Klassenverband unterrichtet – allerdings ohne dass es bisher entsprechende Regulierungen dafür gäbe. Das ist für die Lehrer in der Praxis oft nicht leicht. Dazu kommt die nachlassende religiöse Sozialisation der Schülerinnen und Schüler, die die Religionslehrer vor zunehmende Herausforderungen stellt. Die Zahl der Kinder wächst, die – so würde ich es formulieren – keinen Geschmack mehr haben für Religion.

Die Lehrer müssen also bei Adam und Eva anfangen?
Genau. Zum Glück gibt es didaktische Überlegungen, die sich diesem Problem widmen. Das ist der so genannte performative Religionsunterricht, bei dem auch in der Schule religiöse Praxis probeweise inszeniert wird. Nicht, um die Schüler in eine bestimmte Richtung zu trimmen, wohl aber, um ihnen verständlich zu machen, worum es eigentlich geht. Nach der Einübung der Praxis folgt das vertiefende und erörternde Gespräch.

Ein Beispiel?
Am Thema Beten lässt sich das gut verdeutlichen: Wenn jemand das Beten selber nicht kennt, wird man mit ihm oder ihr nur sehr schwer theoretisch darüber reden können. Mit diesem didaktischen Konzept halten wir weiterhin fest an der Idee des Religionsunterrichts, der – anders als die Religionskunde – über die Lehrer Innenansichten der Religion vermittelt. Es geht nicht primär darum, Wissen abzuprüfen, sondern darum, den Schülern die Möglichkeit zu geben, ihre eigene religiöse Identität zu klären. Für mich ist ein Unterricht dann gelungen, wenn ein Schüler am Ende Urteilsfähigkeit gewonnen hat und sich positionieren kann  – selbst wenn er nach der zwölften Klasse zu dem Ergebnis kommt: „Ich will mit Religion nichts mehr zu tun haben“.

Zurück zum Stichwort der religiösen Pluralität: Die katholischen und evangelischen Kirchen in NRW haben sich ja jetzt darauf geeinigt, ab dem Schuljahr 2018/2019 gemischt-konfessionellen Religionsunterricht zu ermöglichen. Bis dahin ist weniger als ein Jahr Zeit. Die Lehrer müssen doch inhaltlich darauf vorbereitet werden, oder?
Ja, daran arbeiten zur Zeit drei Institute mit Hochdruck: das katholische Institut für Lehrerfortbildung in Essen, das Pädagogisch-Theologische Institut der rheinischen Landeskirche in Bonn  und wir. Im ersten Schritt werden 50 Moderatorinnen und Moderatoren – auf evangelischer Seite sind das zumeist Schulreferenten – ausgebildet, die das Ziel des Vorhabens kennen und die den Schulen anschließend  Hilfen anbieten, wie entsprechende schulinterne Curricula entwickelt werden können. Denn die Unterrichtspläne werden sehr unterschiedlich aussehen müssen, da die konfessionelle Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler ja regional sehr unterschiedlich ist. Dabei wollen wir einen Religionsunterricht, in dem die konfessionellen Spezifika nicht ausgeblendet, sondern benannt und diskutiert werden, damit die Schüler ihre eigene Identität klären können.

Zwischen Katholiken und Protestanten stimmt offenbar die Chemie. Wie ist denn das Verhältnis zu den muslimischen Kollegen?
Da haben wir überaus positive Rückmeldungen. Viele Kolleginnen und Kollegen betrachten die Zusammenarbeit in den Schulen als echte Bereicherung. Offenheit, Gesprächsfähigkeit und eine große Bereitschaft zur Kooperation  haben auch wir kürzlich bei einer Tagung des PI in Villigst erleben können, zu der wir muslimische Kollegen eingeladen hatten. Das hat uns sehr erfreut.   

Viele Lehrer sind den Anforderungen des Schulalltags seelisch und körperlich nur noch schwer gewachsen. Trifft das auch für Religionslehrer zu?
Untersuchungen gibt es darüber nicht. Aber ich würde schon vermuten, dass bei Religionslehrern eine erhöhte Resilienz vorhanden ist. Sie stellen sich den Herausforderungen und nehmen vielleicht auch eher Hilfe an. Was sich möglicherweise daran ablesen lässt, dass sowohl die Fortbildungen (etwa zur Schulseelsorge) und die Supervisionen, die wir anbieten, besonders gut angenommen werden.
 
Wo sehen Sie die größte Herausforderung für die Zukunft?
Es wird darauf ankommen, dass wir mehr Unterrichtsphasen einplanen, bei denen es zu Begegnungen zwischen evangelischen, katholischen, muslimischen und konfessionslosen Kindern kommt. Es geht, kurz gesagt, um die Weiterentwicklung der Pluralitätsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen. Das ist die Herausforderung für die Zukunft.