Gerolfingen (epd). Für die evangelische Kirche in Bayern war es kein unerhebliches Risiko. Als sich der Landeskirchenrat 1948 beim Freistaat dafür einsetzte, den Zuschlag für die Nachnutzung der einstigen Segelfliegerschule auf dem Hesselberg zu erhalten, galt der höchste Berg Mittelfrankens als Nazi-Pilgerstätte. «Ziel war, einen ideologisch stark belasteten Ort neu zu beleben und wieder positiv zu besetzen», sagt der Kenner der Hesselberg-Geschichte, Historiker Thomas Greif.
Als am Pfingstmontag 1951 die Landvolkshochschule nach skandinavischem Vorbild eröffnet wurde, wurde auch der Grundstein für den Bayerischen Kirchentag gelegt. Schon zur Einweihung kamen um die 10.000 Gäste, daraus entwickelte sich eine der größten regelmäßigen kirchlichen Freiluft-Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum.
Greif weiß von Besuchern, die seit Jahrzehnten auf den 689 Meter hohen Berg pilgern. «Der Kirchentag war immer so, wie er heute noch ist – es gibt viele, die genau das mögen», sagt er. Am Morgen ein Gottesdienst, Mittagessen, am Nachmittag Podiumsdiskussionen. Inzwischen gibt es noch Angebote für Kinder oder die Gesprächsrunde mit Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm.
Nach zwei «Ausfällen» 1959 und coronabedingt 2020 feiert der Kirchentag heuer sein 70-Jähriges – findet allerdings erst zum 68. Mal statt. So wichtig er als identifikationsstiftende Veranstaltung für die Protestanten ist: Die eigentliche historische Leistung geht von der früheren Landvolkshochschule aus, dem heutigen Evangelischen Bildungszentrum (EBZ) Hesselberg, das der Region nach dem Krieg die Demokratie beibrachte.
Die Landvolkshochschule war mit dem Leitsatz «Kein Bauer wählt mehr braun» gestartet, erläutert Greif. Viele in der Region seien von der kirchlichen Bildungsarbeit geprägt worden. Und entnazifiziert. Das war nötig, denn Westmittelfranken gehörte zu einer der «braunsten Gegenden» Deutschlands.
Mit der Geschichte des Berges tat sich das EBZ lange schwer. Man wollte die braune Episode des Hesselbergs mit den sogenannten Frankentagen von Nazi-Hetzer Julius Streicher und bis zu 100.000 Besuchern verschweigen – aus Angst, einen Wallfahrtsort für Neonazis zu schaffen. Darüber könne man sich im Nachhinein wundern, sagt EBZ-Leiter Pfarrer Christoph Seyler. Die Kirche habe sich der NS-Zeit
auf dem Berg ja bewusst entgegengestellt: «Trotzdem gab es eine 'Scham'.»
Dieser «Scham» folgten öffentliche Fehlinterpretationen, die Kirche müsse etwas zu verstecken haben, sagt Seyler. Natürlich sei die damalige Landvolkshochschule «auch ein Versuch der Kirche» gewesen, mit eigener Schuld aus der NS-Zeit umzugehen. Nur: Auf dem Hesselberg war die Kirche vor Kriegsende gar nicht aktiv.
Die Gesamtgeschichte des Berges, die NS-Zeit, aber auch die Zeit davor, etwa als bürgerliches Ausflugsziel, oder eben die kirchliche Nachkriegsgeschichte, soll künftig auch im EBZ eine zentralere Rolle spielen. Historiker Greif arbeitet inzwischen mit dem EBZ zusammen, nachdem seine Doktorarbeit «Frankens braune Wallfahrt – der
Hesselberg im Dritten Reich» in den 2000er Jahren auf und um den Berg nicht nur positive Reaktionen hervorgerufen hatte.
Bleibt die Frage, wie sich ein Bildungszentrum im ländlichen Raum mit einer katastrophalen Nahverkehrsanbindung 70 Jahre nach seiner Gründung nachhaltig für die Zukunft aufstellen soll. «Vor einem Jahr wäre ich nicht so optimistisch gewesen», sagt Seyler. Er und sein Team hatten Angst, dass die Kursteilnehmer nach der Pandemie gar nicht mehr kommen.
«Heute sage ich: Es braucht uns mehr denn je – gerade auch so etwas abgeschieden.» Die Sehnsucht nach einer «Auszeit auf dem Berg» sei groß. «Wir sind ausgebucht ohne Ende», sagt der EBZ-Leiter. Sobald der Betrieb wieder aufgenommen werden darf, ist das Haus voll. «Seit Corona-Beginn haben 590 Gruppen ihre Treffen und Tagungen bei uns abgesagt – das waren 37.000 Übernachtungen», sagt Seyler.
Zeitgleich will sich das EBZ-Team fit für die Zukunft machen. Die Internetanbindung ist inzwischen ordentlich. Die Tagungs- und Konferenzräume könnten digital besser ausgestattet sein, «da sind wir gerade dabei», sagt Seyler. Neben Technik geht es am EBZ vor allem um Menschen: «Wir verstehen uns als Dienstleister für unsere Besucher. Das kann bedeuten, dass wir etwa bei der Moderation auch teil-digitaler Veranstaltungen helfen.»