Hubert Wolf ist ungemein produktiv. Seine Bücher zur Geschichte der katholischen Kirche ermöglichen überraschende Erkenntnisse und beleben die Reformdebatte. Jetzt wird der Wissenschaftler und Priester 65.
Zu seinen wichtigsten Arbeitsgeräten zählen Bleistift und Anspitzer. Wenn Hubert Wolf die Archive des Vatikan durchforstet, ist zwar ein Laptop erlaubt. Doch um die Jahrhunderte alten Akten zu schützen, sind Füller und Kugelschreiber verboten. Für persönliche Notizen ist nur ein Bleistift erlaubt.
Seit mehr als 40 Jahren hat der Münsteraner Kirchenhistoriker Zugang zu den vatikanischen Archiven und hat dabei so manche wissenschaftliche Perle gefunden. Wolf hat ein Händchen für Themen, die eine breite Öffentlichkeit interessieren. Seine Erkenntnisse liefern Stoff für die Reformdebatte in der Kirche. Den konservativen Katholiken ist er dabei bisweilen ein Dorn im Auge – weil er gefühlte Wahrheiten in Frage stellt und aus den Akten zahllose Beispiele für die Vielfalt katholischer Traditionen freilegt.
Weil Wolf zudem wunderbar erzählen und schreiben kann, sind seine Bücher – etwa über den Zölibat, das Unfehlbarkeitsdogma oder die Inquisition – Bestseller. Nicht umsonst sprach die Deutsche Forschungsgemeinschaft ihm 2003 den mit 1,55 Millionen Euro dotierten Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis und 2004 den Communicator-Wissenschaftspreis des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft zu. Am Dienstag wird der in Münster lehrende Historiker und Priester 65 Jahre alt. Die Uni Münster hat seine Dienstzeit bis Februar 2029 verlängert.
Wolf, der aus Wört in Oberschwaben stammt und 1985 zum Priester der Diözese Rottenburg-Stuttgart geweiht wurde, ist sich bewusst, dass er an einem einzigartigen Arbeitsplatz forschen kann: “Das ist wie Troja ausgraben”, sagt er. Mehr als 85 Kilometer Akten aus weit über 1.000 Jahren. 400.000 Pappschachteln, die vielfach noch kein anderer Wissenschaftler gesehen hat. Andererseits: Die Arbeit in dem 1612 im Apostolischen Palast errichteten Archiv gleiche vielfach der Suche nach Nadeln im Heuhaufen. Handschriften, dicke Aktenbündel und Kassetten mit hunderten, nicht geordneten Dokumenten: Nur ein kleiner Teil der Akten ist nach heutigen Maßstäben ordentlich registriert.
“Wer einmal die Droge Archivio Segreto Vaticano inhaliert hat, der muss immer wieder hin”, beschreibt er die Pionierarbeit im “Eldorado der Geschichtswissenschaft”. Die Bannandrohungsbulle gegen Martin Luther in Händen zu halten oder die Inquisitionsakten gegen Galilei vor sich zu sehen – hier zeigt sich Weltgeschichte.
Ein Thema liegt Wolf derzeit besonders am Herzen: die Bittschreiben von verfolgten Juden an den Vatikan – emotionale Geschichten, auf die der Historiker und sein Team eher zufällig stießen, als sie die 2020 für die Forschung freigegebenen Bestände aus dem Pontifikat von Papst Pius XII. (1939-1958) untersuchten und eine Biografie zum Weltkriegspapst vorbereiteten. Rund 10.000 solcher Schreiben finden sich in den Archiven; Tausende Menschen aus ganz Europa baten in höchster Not um Hilfe. Ganz oft seien es die letzten Texte, die sie vor ihrer Ermordung geschrieben hätten, sagt der Historiker.
Waren der Papst und seine Mitarbeiter bereit, verfolgten Juden zu helfen? Wie verbreitet waren antisemitische Einstellungen in der Kurie? Wolf betont, dass eine Konzentration auf Pius XII. allein zu kurz greifen würde. Deutlich wird laut Wolf aber, dass das Kirchenoberhaupt sehr detailliert über die Situation der Juden informiert war. Und dass der Heilige Stuhl oft half: mit Geld oder bei der Ermöglichung von Auswanderungen vorwiegend nach Nord- und Südamerika. Er organisierte Visa und Pässe und finanzierte Schiffspassagen.
Mit Blick auf die heiß umstrittene Frage, ob Pius XII. zum Holocaust geschwiegen habe, hat Wolf eine These: Der Papst habe zwar in seiner Weihnachtsansprache 1942 den Völkermord aus eigenem Antrieb öffentlich benannt – allerdings in einer so verklausulierten Sprache, dass Opfer und Täter nur indirekt kenntlich gemacht wurden.
Ein Grund dafür sei die Sorge gewesen, dass der Vatikan seine Position der Neutralität einbüßen könnte. Zudem habe das Kirchenoberhaupt in einer Sackgasse gesteckt: Die Deutschen hatten 1940/41 etwa eine Million katholischer Polen ermordet, und polnische Bischöfe hatten mehrfach vergeblich einen öffentlichen Protest des Papstes gefordert. “Nachdem Pius XII. zum Genozid an den katholischen Polen geschwiegen hatte, konnte er nun zum Genozid an den Juden ebenfalls nicht Klartext reden.”