Der Traum der evangelischen Kirche, gegen den Trend zu wachsen, scheint ausgeträumt. Das 2006, also vor bald 20 Jahren, erschienene Impulspapier der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) „Kirche der Freiheit“ mit seinen „Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ liest sich heute wie das Dokument aus einer fernen Vergangenheit. Die Parole lautete damals: „Bei einem aktiven Umbauen, Umgestalten und Neuausrichten der kirchlichen Arbeit und einem bewussten Konzentrieren und Investieren in zukunftsverheißende Arbeitsgebiete wird ein Wachsen gegen den Trend möglich“. Frohgemut wurden „zwölf Leuchtfeuer der Zukunft“ entzündet, die sich am Ende als Strohfeuer erweisen sollten. „Wachsen gegen den Trend“ lautete auch das Motto, unter dem in Hamburg 2005 eine Konsultation „Kirche und Stadt“ zur „Kirche der Zukunft“ stattfand.
Protestanten in der Minderheit
Die Zahl der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder in Deutschland ist in den vergangenen 50 Jahren von 90 auf 45 Prozent gesunken, während die Zahl der Konfessionslosen inzwischen etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmacht und die Zahl der Muslime deutlich gestiegen ist. Was in vielen Ländern Europas für Protestanten selbstverständlich ist, entwickelt sich in Deutschland zur neuen Normalität, nämlich zur Minderheit zu werden. Die Diasporaexistenz der Kirche wird zur gemeinsamen ökumenischen Erfahrung, und die evangelische Kirche in Deutschland tut gut daran, von den europäischen Schwesterkirchen zu lernen.
Diasporaexistenz annehmen
Hilfreich kann dabei das 2018 erschienene Studiendokument „Theologie der Diaspora“ der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) sein. Es versteht sich als Ermutigung, die Diasporaexistenz der Kirche anzunehmen, die keineswegs nur auf Minderheitskirchen zutrifft, sondern schon im Neuen Testament die Grundsignatur der Kirche beschreibt. Im Vorfeld der GEKE-Vollversammlung 2012 in Florenz konnten sich der Rat der GEKE und insbesondere die deutschen Delegierten für das Thema nicht recht erwärmen. Es erschien kontraproduktiv gegenüber der Vision, gegen den Trend wachsen zu wollen. Heute gehört die in Basel 2018 angenommene Studie „Theologie der Diaspora“ zu den meistgelesenen GEKE-Texten.
Selbstverständnis als Volkskirche nicht über Bord werfen
Man kann das griechische Wort „Diaspora“ mit „Zerstreuung“, aber auch mit „Eingestreutsein“ übersetzen. So haben es Theologen wie der österreichische Mitverfasser der Leuenberger Konkordie Wilhelm Dantine (1911–1981), der evangelische Theologe Ernst Lange (1927–1974) oder auch der katholische Theologe Karl Rahner (1904–1984) verstanden. Das erwähnte Studiendokument begreift Diaspora auf biblischer Grundlage als Gestaltung von Beziehungsfülle im Sinne der Nachfolge Christi. Die Herausforderung der Gegenwart besteht darin, die Polyphonie der Lebensbezüge von Gemeinden in der Diaspora sichtbar zu machen und als wesentliche Gestaltungsaufgabe anzunehmen. Das herkömmliche Selbstverständnis als Volkskirche ist keineswegs einfach über Bord zu werfen, wohl aber im Sinne von Beziehungsnetzwerken neu zu denken, um das eigene christlich-evangelische Profil der Kirchen und Gemeinden im Miteinander der pluralen Gesellschaft, in der sie leben, neu zu gestalten.
Herausforderungen der Gegenwart annehmen
Diasporaexistenz bedeutet gerade nicht den Rückzug in das selbstgewählte Ghetto einer religiösen Sonderwelt, sondern sie weiß sich in die Welt gesandt, der unverkürzt die Zusage des Evangeliums gilt, das alle Menschen nach Gottes Willen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen sollen (1. Timotheus 2,4). Wilhelm Danine hat in diesem Zusammenhang freilich auch auf das Wort vom Weizenkorn aus Johannes 12,24 verwiesen, das nur dann Frucht bringt, wenn es in die Erde fällt und stirbt. Die Hoffnung des Glaubens in dürftiger Zeit ruht darauf, dass die Kirche nicht nur am Sterben Christi, sondern auch an seiner Auferstehung teilhat. Aus diesem Glauben heraus gilt es die Herausforderungen der Gegenwart in unseren Kirchen und Gemeinden anzunehmen.
Lage der Kirche schönreden?
Einer kleiner werdenden Kirche kann sich auch das Wort Jesu aus der Bergpredigt neu erschließen: „Ihr seid das Salz der Erde“ (Matthäus 5,13). Wie Weizenkörner in die Erde gesenkt werden, so Salzkörner dem Essen oder einer Suppe beigemengt, in der sie sich auflösen. Ist es zu gewagt, das Bildwort vom Salz mit demjenigen des Weizenkorns, das viel Frucht bringt, wenn es erstirbt, in Verbindung zu bringen? Bildworte haben es freilich an sich, dass sie sich in verschiedene Richtungen auslegen lassen. Was ist nicht alles schon in das Wort vom Salz der Erde hineingelesen oder aus ihm herausgelesen worden! Heute könnte man versucht sein, sich die gegenwärtige Lage der Kirche unter Berufung auf die Bergpredigt schönzureden. Ein Übermaß an Salz verdirbt nicht nur das Essen, sondern ist auch gesundheitsschädlich. Wäre der Welt folglich auch im übertragenen Sinne eine salzarme Kost zu empfehlen, also ein Christentum, das sich selbst zurücknimmt? Wie schön ist es doch, wenn die Zugehörigkeit zur Kirche keine Konvention mehr ist, sondern eine bewusst gewählte Option! Wie befreiend ist das Ende des konstantinischen Zeitalters! Wo oft hat man solche Sätze schon gelesen, die ja nicht völlig falsch sind. Fehlt nur noch, den Bogen zu postkolonialer Missionskritik zu schlagen.
Licht und Salz sind lebensnotwendig
Der Jesus der Bergpredigt stimmt freilich nicht das Lied einer selbstgenügsamen kleinen Herde an. Die Bildworte vom Salz der Erde und vom Licht der Welt stehen keineswegs im Gegensatz zum Tauf- und Missionsbefehl am Ende des Matthäusevangeliums. Gemeint ist vielmehr: Ausgerechnet die Jünger Jesu, die verfolgt und geschmäht werden, haben den missionarischen Auftrag, aller Welt das Evangelium und die anbrechende Gottesherrschaft zu verkündigen. Salz der Erde, Licht der Welt: So lebensnotwendig wie das Licht ist auch Salz. Die Welt und die Erde brauchen die Jünger und ihr Gemeinde so notwendig wie Licht und Salz, allerdings nur soweit und insofern sie glaubwürdige Zeugen Jesu Christ und des lebensspendenden Evangeliums sind. Was für ein Anspruch, den sie nicht in erster Linie selbst erheben, sondern der in der Bergpredigt an sie gerichtet wird! Schließlich mündet das mit dem Lichtwort verschränkte Bildwort vom Salz in ein Drohwort: Salz von minderer Qualität wird zu Boden geworfen und zertreten.
Kirche soll nicht abgeschottet existieren
Was aber hat man sich unter solchem unbrauchbaren Salz vorzustellen? Eine plausible Erklärung gibt Ulrich Luz in seinem großen Matthäuskommentar: Jesus könnte an das Salz vom Toten Meer gedacht haben, das nur zu etwa einem Drittel aus Kochsalz besteht und auch im Handel nicht ohne Beimischungen verkauft wurde. Feuchtigkeit konnte den Geschmack des Gemischs beeinträchtigen und so das Salz unbrauchbar machen. Übertragen auf die Kirche in der Diaspora könnte das heißen: Die Kirche soll nicht abgeschottet existieren, sondern im lebendigen Austausch mit der Gesellschaft leben, offen für die Menschen in ihrer kulturellen und religiösen Vielfalt. Wohl ist der Kirche aufgetragen, das Evangelium rein zu verkündigen (pure docere), wie es in Artikel 7 des Augsburger Bekenntnisses heißt. Dem Salz des Evangeliums sind aber in Verkündigung, Gottesdienst und kirchlichem Leben immer auch andere Inhalte von sozialem Leben und Kultur beigemengt. Das gehört von jeher zur Inkulturation des Evangeliums und geht in Ordnung, solange das Evangelium als Salz in der Suppe noch herauszuschmecken bleibt und nicht bloß als kulturchristlicher Restbestand mitgeführt wird, der sich in allgemeinen Humanitätsidealen oder einer diffusen Spiritualität auflöst.
Kirche ist kein Selbstzweck
Kirche in der Diaspora soll kein sektiererisches Reinheitsideal propagieren, sich aber auch nicht dem Zeitgeist anpassen und nur in leicht erhöhtem Ton wiederholen, was auch sonst von NGOs zu gesellschaftspolitischen Themen zu hören oder auf dem Mark religiöser Sinnangebote zu finden ist. So wie das Salz nur als Würze für die Speise seinen Sinn erfüllt, ist auch die Kirche kein Selbstzweck zur Pflege religiöse Bedürfnisse, sondern für die Welt da. Um Kirche für die Welt und andere zu sein, muss sie freilich zunächst einmal erkennbar Kirche sein und auf das Evangelium hören.

