Zweimal ist in diesen Tagen vom Jüngsten Gericht zu lesen. Das berühmteste Krankenhaus des Mittelalters feiert sein 575-jähriges Bestehen (Seite 11), das Hotel-Dieu in Frankreich. Schon im 16. Jahrhundert stand dort das Gemälde „Vom Weltgericht“. Das überdimensionale Bild von Rogier van der Weyden sollte die Kranken wohl auf ihr mögliches Schicksal hinweisen: gerettet oder verdammt werden, im Himmel landen oder in der Flammenhölle. Und die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, hat in der vergangenen Woche bei ihrem Besuch in den USA über das „göttliche Gericht“ gepredigt.
Das ist umso auffälliger, als heutzutage eher selten darüber gesprochen wird. Die Rede vom Gericht ist nicht mehr angesagt. In Freikirchen begegnet sie einem noch gelegentlich, manchmal verbunden mit beängstigenden Bildern von ewiger Verdammnis. Früher hat auch in landeskirchlichen Gemeinden die Drohung des höllischen Feuers Menschen in Schrecken versetzt.
Gerade die Älteren erinnern sich sicher noch an das Bild vom breiten und dem schmalen Weg. Und dass man sich halt entscheiden muss, wo man letztlich ankommen will. Es ist sicher gut, wenn sich die kirchliche Verkündigung an diesem Punkt geändert hat. Aber die gegenteilige Tendenz wird der Bibel auch nicht gerecht.
Im Alten und im Neuen Testament ist eben nicht nur vom barmherzigen Gott zu lesen, sondern ebenso von seinem richtenden Handeln. So wie es sonntags mit dem apostolischen Glaubensbekenntnis gesprochen wird: „Von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.“ Es hilft also nicht weiter, ausschließlich von einem „lieben“ und damit letztlich harmlosen Gott zu reden.
Bedenkenswert sind daher die Worte von Präses Kurschus über das Gericht. Sie verschweigt es nicht. Aber sie sieht es nicht als Drohung, sondern als Verheißung. Es geht um die Sehnsucht vieler Menschen, dass zumindest am Ende der Zeiten wieder Gerechtigkeit hergestellt wird. Es ist kein Zufall, dass in Gospels und Spirituals mehr davon die Rede ist, als in anderen Kirchenliedern. Bekannte Songs wie „Oh when the saints“ oder „Swing low, sweet chariot“ aus dem 19. Jahrhundert knüpfen an die Gesänge der schwarzen Bevölkerung Nordamerikas an. Die Texte zeugen von der Hoffnung der Unterdrückten, am Tag des Jüngsten Gerichts zu den Auserwählten zu gehören und ins Himmelreich einziehen zu dürfen.
Demnach ist die Idee vom „Jüngsten Gericht“ kein Widerspruch zu einem liebenden Gott. Sie nimmt den Menschen vielmehr ernst, indem sie ihm die Verantwortung für sein Handeln verdeutlicht. Es ist eben nicht alles gleich und alles egal. Und deshalb darf das Gericht gar nicht verschwiegen werden. Es stimmt: Gott nimmt den Menschen an, wie er ist. Aber das andere stimmt auch: Der Mensch muss deshalb nicht so bleiben, wie er ist. Er tut Böses, macht Fehler und unterlässt manches Gute. Aber er kann und soll sich ändern. Umkehren nennt das die Bibel.
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Kann der liebe Gott bestrafen?
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